Die gesammelten Prozesse des Karl Liebknecht im Spiegel der zeitgenössischen Presseberichterstattung 1900–1914
Band 1: Die Prozesse 1900–1904
Matthias John
Immer wieder wurde und wird behauptet, dass Karl Liebknecht in der DDR als Ikone gehandelt wurde. Das mag für die ersten, das heißt, für die fünfziger Jahre stimmen. Im Laufe der weiteren Entwicklung der DDR trat Rosa Luxemburg neben und vor Karl Liebknecht. Das widerspielte sich speziell in der Wissenschaft. Während Rosa Luxemburg unter den Wissenschaftlern nunmehr besondere Aufmerksamkeit genoss, wurde von ihnen das Werk von Karl Liebknecht geradezu stiefmütterlich behandelt. Erst durch die Forschungen von Annelies Laschitza in der Endphase der DDR und unmittelbar nach der Wende wurde zumindest das Leben Karl Liebknechts tiefgründig erforscht. Dabei zeigte sich aber, dass seriöse Spezialstudien zu seinem beruflichen Wirken als Anwalt nach wie vor ein Desiderat der Forschung sind. Die Herausgabe der „Gesammelten Prozesse“ soll dazu beitragen, dass diese Forschungslücke geschlossen werden kann. Es muss als ein Glücksumstand angesehen werden, dass die sozialdemokratische und zuweilen auch die bürgerliche Presse seinen Auftritten als Anwalt besondere Aufmerksamkeit widmete. Und das nicht nur wegen seines berühmten Familiennamens, sondern vor allem wegen seiner herausragenden anwaltlichen Fähigkeiten. Er galt, wie Wilhelm Dittmann in seinen Erinnerungen schrieb, als Stern am juristischen Himmel. Obwohl er in erster Linie ein politischer Anwalt war, übernahm er auch die anwaltliche Vertretung in Prozessen, die völlig unpolitisch waren; so verteidigte Karl Liebknecht unter anderem eine einfache Näherin, die von ihrem sozial aufgestiegenen Geliebten in Stich gelassen worden war. Im Mittelpunkt des 1. Bandes steht allerdings sein erster großer politischer Prozess, die Kaiserinsel. Es ging dabei um den mutmaßlichen Plan Kaiser Wilhelm II., auf der Havelinsel Pichelswerder ein Schloss zu errichten, auf dem er auch im Falle politischer Unruhen sicher sein konnte. Am häufigsten übernahm Karl Liebknecht, wie in dem vorliegenden Band dokumentiert wird, die anwaltliche Vertretung in Verfahren, in denen es um die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ging. Auf Grund seiner herausragenden juristischen Fähigkeiten vermochte er immer wieder die Anklage zu Fall zu bringen. Unter den von ihm erfolgreich vor Gericht vertretenen Sozialdemokraten befanden sich nicht wenige, die später in der deutschen Sozialdemokratie eine mehr oder minder bedeutende Rolle spielten. Allerdings sollten sie Jahrzehnte später in ihren Erinnerungen – aus Gründen „der politischen Räson“ – diesen Umstand zumeist verschweigen.