Die unerkannte Macht – Peinlichkeit als Faktor der Politik
Jens Jensen
Welche Rolle spielen Emotionen im politischen Prozess? Die interdisziplinär angelegte Untersuchung zeigt auf, wie sehr die Bedeutung sozialer Emotionen in den traditionellen Ansätzen zur Erklärung politischer Integration und Willensbildung vernachlässigt wird. In Anlehnung an die Theorie der Schweigespirale von Elisabeth Noelle wird davon ausgegangen, dass – oft nur gedanklich vorweggenommene – Peinlichkeit wesentlich am Zusammenhalt politisch-sozialer Systeme beteiligt ist. Unter dem Aspekt der Konformität erscheint Peinlichkeit, indem sie die Isolationsfurcht des Menschen aktualisiert, als Puffer, der extreme Ausschläge begrenzt. Hinsichtlich des politischen Willensbildungsprozesses wird die gängige Annahme, es handele sich um einen überwiegend rational geprägten Wettstreit konkurrierender Meinungen, in Frage gestellt: Ohne die verhaltensleitende Wirkung sozialer Emotionen, so die These, wäre häufig gar kein Interessenausgleich möglich. Versteht man antizipatorisch wirksame Peinlichkeit zudem als Waffe im Kampf um sozialen Einfluss, dann ist die Möglichkeit, Peinlichkeitszuschreibungen umzudeuten, das heißt, normative Grenzen zu verschieben, ein Machtfaktor ersten Ranges.