„Die Vorstellungskraft spazieren führen“
Zur Entstehungs- und Frühgeschichte der französischen Kantate zwischen Kulturtransfer und Neuerfindung
Inken Meents
Sie führe mit vielfältigen Ausdrucksweisen „die Vorstellungskraft spazieren“,
schreibt Sébastien de Brossard über die konzertante Gattung Kantate.
Um 1700 erschien vor allem die französische Kantate als besonderes poetisches und musikalisches
Phänomen, wenn auch als eines von kurzer Dauer. In der ursprünglich aus Italien stammenden Kantate
wurden nun italienische Instrumental- und französische Vokalmusik vereint: Eine vielseitige neue
Gattung war erfunden. Daraus ergeben sich Fragen zu Kulturtransfers und Stilmischungen (Goût réuni),
die sowohl im Kontext zeitgenössischer, ideologisch aufgeladener Diskussionen als auch in der Forschung
bereits unterschiedlich beantwortet worden sind. Die Gattung wurde dabei oft nicht als eigenständig,
sondern mit Bezugnahme auf die Oper thematisiert. Die neuste Annahme versteht die Kantate hingegen
als variablen musikalisch-literarischen „Strukturtypus“ mit Katalysatorfunktion. Die Autorin knüpft
dort an, nähert sich den französischen Kantaten, ihren gattungsspezifischen, stilistischen und topisch
von der Oper beeinflussten Ausprägungen durch Analysen, betrachtet sie erstmals als Werke eigenen
Rechts mit eigener Dramaturgie und arbeitet in Bezug auf die Entstehungs- und Frühgeschichte
Ideologien, soziale Netzwerke, Milieus, Gattungsgrenzen sowie -überschneidungen und Eigenarten heraus.