Die Wahrnehmung des Wunderbaren
Der »Roman d'Alexandre« im Kontext der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts
Susanne A. Friede
Das Wunderbare in mittelalterlichen französischen Texten – faßbar unter dem altfranzösischen Oberbegriff la merveille – wird auf neue Weise in den Blick genommen. An die Stelle moderner Zuschreibungen tritt der Versuch, das Phänomen in seiner Verortung im Beziehungsgeflecht der Textsorten und Erzählmodelle wahrzunehmen und zu verstehen. Literatur liegt als selbstbezogenes, autonomes System vor uns, das verankert ist in einem Wechselspiel zwischen hochgebildetem Publikum, überregionalem Literaturbetrieb und einer schnellen Angleichung, Bezugnahme und Weiterentwicklung der Erzählmodelle. Im einzelnen werden das märchenhafte, das technische, das natürliche und das religiöse Wunderbare als grundlegende Typen in einem breit angelegten Textkorpus untersucht, wobei der »Roman d’Alexandre« von 1185 erstmals alle Typen im Bezug auf verschiedene Textsorten integrativ verarbeitet. Zudem läßt sich aus der vergleichenden Betrachtung der Konzeption und Semantik des literarischen Raums und der Handlungsstruktur eine text-, aber auch textsortenspezifische Wahrnehmung des Wunderbaren nachweisen. Die Modellbezogenheit sowie die Autoreferentialität der Texte und des sich europäisch früh konstituierenden Systems der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts zeigen sich nicht primär in Intertextualitätsrelationen im Sinne eines eindeutigen Vorher-Nachher-Bezugs, sondern vielmehr in einer generellen textsortenübergreifenden morphologischen, typologischen und strukturellen Systemorientiertheit aller untersuchten Texte.