Diese Zeilen sind mein ganzes Leben…
Briefe aus dem Gulag
Meinhard Stark
„Man wartet einen ganzen Monat darauf, diesen einen Brief schreiben zu dürfen, und wenn man ihn beginnt, versagen die Hände.“ So heißt es in einem Brief der russischen Jüdin Ljudmila Meister, den sie ihrer Tochter und ihrer Mutter im April 1940 aus dem Haftlager sandte: „So viele Gedanken gehen mir durch den Kopf, so viel Schmerz, so viele Sorgen um Dich und Mama. Hinzu kommt die Ohnmacht, das Bewusstsein der absoluten Unfähigkeit, irgendetwas tun zu können für die Menschen, die ich am meisten liebe.“ Empfindungen, die viele Frauen und Männer hinter dem Stacheldraht des Archipel Gulag, dem weitverzweigten System von Straflagern in der UdSSR, bewegten. Besuche von Angehörigen waren nur zeitweilig erlaubt, zudem durch die großen Entfernungen und hohen Reiseaufwendungen äußerst selten. In dieser Situation wurden Briefe zur einzigen Lebensader zwischen den Gefangenen und ihren nächsten Angehörigen.
Das Verfassen der Briefe an die Liebsten daheim glich einem emotionalen Wechselbad. Wenn Akim Kowalew in der Baracke einen Platz fand und sich zum Schreiben niederließ, war er immer „sehr aufgewühlt“ und „sehr unruhig“. Groß war die Sorge auch, wenn Briefe über Wochen, Monate oder gar Jahre ausblieben. Niemand wusste, ob die kostbaren Zeilen auf dem Transport verloren gingen oder gar nicht erst das Lagertor passiert hatten.
Ca. 900 Briefe von annährend Hundert Gulag-Häftlingen liegen dieser Edition zugrunde. Von ihnen kommen 18 stellvertretend für ihre Mitgefangenen mit ihren Lagerbotschaften eingehend zu Wort; unter ihnen fünf Litauerinnen und Litauer, fünf Deutsche, vier Russinnen und Russen, eine Polin, ein Pole sowie eine Georgierin und ein Ukrainer. Die weitgehend unveröffentlichten Briefe der sieben Frauen und elf Männer wählte ich aus, weil sie ganz verschiedene Aspekte ihrer persönlichen Erfahrungswelt wie ihres mentalen Befindens hinter dem Stacheldraht widerspiegeln, aber auch Einblicke in ihre Erlebnisse mit der Lagerpost gestatten. Welche große emotionale Bedeutung das Schreiben für diese Gefangenen und ihre Angehörigen hatte, zeigt nicht zuletzt, dass diese unter schwierigsten Bedingungen des Fortbestehens einer staatlichen Diktatur in der Sowjetunion und anderen östlichen Staaten über Jahrzehnte aufbewahrt und behütet wurden.