Edmund Husserl – Martin Heidegger: Phänomenologie (1927).
Renato Cristin
Im Frühjahr 1927 bekam Husserl von der »Encyclopaedia-Britannica« die Einladung, den Artikel »Phenomenology« zu schreiben. Von Anfang an will Husserl Heidegger als Mitarbeiter für die Abfassung des Artikels, die sich von Oktober 1927 bis März 1928 erstreckt, gewinnen. Die von Husserl gleichzeitig begonnene Lektüre von »Sein und Zeit« findet bei dieser Zusammenarbeit eine Konkretisierung in einem wirklichen Gespräch. Obwohl Husserl schon einige Zweifel an Heideggers Tendenz äußerte, will er die Differenz beider Standpunkte, die die Trennung ihrer Vertreter bedeutete, nicht wahrhaben. Diese kurze Zusammenarbeit hat eine große Bedeutung für die Geschichte der gegenwärtigen Philosophie: Ausgehend von ihr und dem darauffolgenden Unterschied, sind nicht nur zwei verschiedene Perspektiven der phänomenologischen Forschung, sondern auch einige Denkorientierungen entstanden, welche die Philosophie des XX. Jahrhunderts geprägt haben: Die nachhusserlsche Phänomenologie, der Existentialismus, die gegenwärtige philosophische Hermeneutik sowie einige Aspekte des Strukturalismus und der philosophischen Anthropologie.
Der vorliegende Band stellt die endgültige Fassung des Encyclopaedia-Britannica-Artikels, Heideggers Einleitung zur zweiten Fassung sowie seinen Brief an Husserl vom 22.X.1927 vor. Neben einem Brief Husserls an R. Ingarden wird hier auch der bedeutende Brief Husserls an Alexander Pfänder vom 6. I. 1931 wiederabgedruckt, in dem eine Bilanz der gesamten Beziehungen mit Heidegger gezogen worden ist. Nach dem Erscheinen in den Akademischen Mitteilungen der Universität Freiburg i. Br. wird hier zum ersten Mal die Rede veröffentlicht, die Heidegger anläßlich des 70. Geburtstages Husserls gehalten hat.
Die Einleitung des Herausgebers fügt die wesentlichen Aspekte dieser Zusammenarbeit und die Ereignisse um 1927 in die gesamte Situation der Beziehungen zwischen Husserl und Heidegger ein, um folgende These zu vertreten: Heideggers Kritik der phänomenologischen Methode bedeutet eine Transformation der Husserlschen Lehre, die aber auch eine mögliche Entwicklung der Phänomenologie ist. Renato Cristin zeigt auch, daß die Trennung zwischen Husserl und Heidegger hauptsächlich von Mißverständnissen verursacht wurde, denen beide Denker verfallen waren.
Renato Cristin (geb. 1958) lehrt »Ermeneutica Filosofica« («Philosophische Hermeneutik«) an der Universität Trieste. Er ist darüber hinaus Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Reihe »Orbis Phaenomenologicus« und der Buchreihe »Phänomenologie. Texte und Kontexte« sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirates von zahlreichen internationalen philosophischen Fachzeitschriften.