Ein Liber cantus aus dem Veneto (um 1440) – A Veneto Liber cantus (c. 1440)
Fragmente in der Bayerischen Staatsbibliothek München und der Österreichischen Nationalbibliothek Wien – Fragments in the Bayerische Staatsbibliothek Munich and the Österreichische Nationalbibliothek, Vienna
Margaret Bent, Robert Klugseder
Die vorliegende Faksimile-Edition ist das Ergebnis von Robert Klugseders Entdeckung neuer Mensural-Fragmente in der Nationalbibliothek Wien (Fragm. 661) und Margaret Bents Feststellung der gemeinsamen Herkunft dieser Blätter mit schon bekannten Fragmenten in der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die Staatsbibliothek München verwahrt unter der Signatur Mus. ms. 3224 acht Blätter einer italienischen Handschrift des zweiten Viertels des 15. Jahrhunderts. Zusammen ergeben sie jetzt über zwölf Folien bzw. vierundzwanzig Seiten einer Musikhandschrift, die ursprünglich aus mindestens 107 Folien bestanden haben muss. Gemeinsam bilden die Münchner und Wiener Fragmente eine bedeutende Ergänzung der bisher bekannten musikalischen Quellen aus dem Veneto der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Zu diesen Quellen gehören die umfangreichen Handschriften Bologna Q15 und Oxford Canon. misc. 213 sowie das etwas kleinere Manuskript Bologna Universitätsbibliothek 2216.Trotz der Verwendung von teurem Pergament scheint die Münchner-Wiener Sammlung nicht unbedingt systematisch geplant worden zu sein. Es kann sein, dass Werke erst dann erfasst wurden, als sie zur Abschrift zur Verfügung gestanden haben. Die wenigen erhaltenen Originalfoliierungen erlauben keine sicheren Schlussfolgerungen, doch könnte die Sammlung mit einer Folge von Gloria- und Credo-Kompositionen eingeleitet worden sein, gefolgt ab etwa Folio 100 von einer Sammlung von Motetten und kürzeren Werken. An unbekannter Position, vorher oder nachher, stand eine Folge von Magnificatvertonungen.Obwohl die Fragmente in München und Wien heute nicht mehr in Bücher eingebunden sind, konnten trotzdem alle ehemaligen Trägerbände identifiziert werden. Auf der Suche nach diesen Trägerbänden im Bestand der ehemaligen Weihenstephaner Inkunabeln der Bayerischen Staatsbibliothek konnten zwar keine weiteren Fragmente, jedoch Abklatsche, also Reste von vormals eingeklebten Folien der Musikhandschrift gefunden und zwei weitere Kompositionen identifiziert werden: diese beiden aus anderen Sammlungen bekannten Werke erhöhen die bisherige Anzahl an Kompositionen auf 22, von denen neun, also annähernd die Hälfte, Unikate darstellen. Bis auf fünf anonym überlieferte Werke können alle weiteren bekannten Komponisten zugeschrieben werden. Die meisten dieser Komponisten stammen aus dem Veneto oder haben, wie Arnold de Lantins, Guillaume Du Fay und viele andere junge Musiker aus Städten wie Liège oder Cambrai, längere Zeit in Nordostitalien gewirkt. Zu den italienischen Komponisten des Veneto gehören Cristoforus de Feltro, Antonius de Civitate, Bartolomeo Bruollo und Johannes de Quadris. Transalpine Komponisten mit einer musikalischen Karriere in oder Beziehungen nach Italien sind Arnold de Lantins, Beltrame Feragut und natürlich Guillaume Du Fay. Zusätzlich war die Musik des Franko-Flamen Johannes de Sarto und des Engländers Johan Dunstaple im Veneto weit verbreitet.Margaret Bent und Robert Klugseder haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft, nach weiteren Folien dieser bedeutenden Quelle zu suchen. Es spricht vieles dafür, anzunehmen, dass die Musikhandschrift bereits um 1500 zerlegt worden ist und zumindest einige Blätter in Venedig als Bindematerial Verwendung gefunden haben. Wenigstens ein Teil dieser Blätter hat als Einbandmakulatur oder Verpackungsmaterial für gedruckte Bücher seinen Weg ins bayerische Kloster Weihenstephan gefunden. Dort wurden die Folien als Bindematerial wiederverwendet. Weitere Neufunde, auch in anderen Bibliotheksbeständen, sind jedoch nicht auszuschließen.