Gott als Autor
Zu einer poietologischen Theologie
Oswald Bayer
Der Gottestitel des ‚Poeten‘ des Nizänischen Glaubensbekenntnisses bezeichnet Wort und Werk des Schöpfers zugleich. Als ‚Autor‘ und ‚Poet‘ gibt Gott das verläßliche Wort. Sein Werk – als poiesis – ist die in Treue zugesagte Welt, durch die er uns anredet und sich verspricht. Daher ist seine poiesis eine Poesie des Versprechens. Sie läßt sich nicht im Sinne eines Einheitsprinzips verstehen, das zeit-, situationslos und allein in Aussagesätzen formuliert wird. Sie gibt vielmehr einen – durch den Widerspruch des Menschen gegen Gottes Poesie des Versprechens verschuldeten – Zeitenbruch als Verschränkung der Zeiten zu bedenken. Poietologische Theologie orientiert sich an nicht konstatierenden, sondern konstitutierenden Primärsätzen des Glaubens, an Sprach- und Lebensformen wie Lob und Klage sowie an ‚Lebenstexten‘, etwa der Dichtung Kleppers oder Bobrowskis. Oswald Bayer eröffnet mit seinem Entwurf einen neuen Zugang zur Theologie, den er exemplarisch vor allem in Neubestimmungen schöpfungstheologischer, christologischer, trinitätstheologischer und eschatologischer Bereiche erkundet. In einem interdisziplinären Gespräch zwischen Theologie, Philosophie, Literatur-, Sprach- und Naturwissenschaft korrigiert er den gängigen Wahrheitsbegriff durch einen dreigliedrigen Wissenschaftsbegriff, der den rationalen Bereich von Philosophie und Wissenschaft gegenüber den Bereichen von Geschichte und Poesie nicht isoliert, sondern in den jeweiligen Zusammenhängen zur Geltung bringt. Damit läßt sich auch die grundlegende Bedeutung der Poesie für eine Ortsbestimmung der Theologie zwischen Metaphysik und Mythologie wahrnehmen.