Heidegger, Hölderlin und die Ἀλήθεια.
Martin Heideggers Geschichtsdenken in seinen Vorlesungen 1934-35 bis 1944.
Susanne Ziegler
Zwischen den Schriften „Was ist Metaphysik?“, “ Vom Wesen des Grundes“, „Kant und das Problem der Metaphysik“, 1929, und „Platons Lehre von der Wahrheit“, 1942, hat Heidegger nichts publiziert außer zwei kurzen Hölderlin-Vorträgen und seiner Rektoratsrede von 1933. In diesen dreizehn Jahren hat sowohl Heideggers Denkansatz als auch seine Denkhaltung eine Veränderung erfahren; es ist die in der Heidegger-Forschung so genannte „Kehre“. Seit der 1976 aus dem Nachlaß begonnenen Herausgabe von Heideggers Vorlesungen fällt von Mal zu Mal mehr Licht auf seinen Denkweg in besagter Zeitspanne. Zu Recht wurde die Vorlesung als die „Heideggers philosophisches Schaffen zentral prägende Darstellungsform“ bezeichnet. Studiert man die Vorlesungen, so wird klar, wie es dazu kommt, daß Heideggers Denkwege in dieser Zeit oft „jäh im Unbegangenen aufhören“; so das Motto des Buches „Holzwege“, das, 1950 erschienen, Vorträge und Aufsätze aus der Zeit von 1935 bis 1946 enthält.
Die These der Autorin lautet: Der Grund für Heideggers gewandeltes Denken am Ende der genannten Zeitspanne besteht in Erfahrungen, die er im Gespräch mit Hölderlin seit der Vorlesung von 1934/35 gemacht hat. Was sich zwischen 1934/35 und der Heraklit-Vorlesung von 1944 abspielt und als „Kehre“ angesprochen wird, bereitet Heideggers Denken vor, wie es in „Vorträge und Aufsätze“, „Unterwegs zur Sprache“ und in allen späteren Schriften zum Ausdruck kommt.
Die Vorlesungen ab 1934/35 zeigen drei Schwerpunkte: die Auseinandersetzung mit Hölderlin, mit Nietzsche und mit den griechischen Denkern am Anfang der abendländischen Geschichte. Während die Philosophie Nietzsches in Heideggers Augen die Vollendung des mit Platon beginnenden Zeitalters der Metaphysik artikuliert, kündigt sich in der Dichtung Hölderlins der Anfang einer anderen Geschichte an. Diesen anderen Geschichtsanfang sieht Heidegger in einem Spannungsverhältnis zu dem, was die griechischen anfänglichen Denker gesagt haben. Ihre Gedanken legt er als ein Sprechen aus dem Erfahrungsbereich der Ἀλήθεια aus. Hölderlin und die Ἀλήθεια stehen also, in je verschiedener, jedoch aufeinander bezogener Weise, für den Anfang von Geschichte. Es ist Heideggers Überzeugung, daß sich Geschichte aus ihrem Anfang bleibend bestimmt. In der Untersuchung wird die Herkunft dieser Überzeugung aufgespürt, was auch irn Hinblick auf die unveröffentlichte Abhandlung von 1941 „Über den Anfang“ von Bedeutung ist.
Die Verfasserin legt den Boden frei, aus dem das Denken von Heideggers Spätschriften erwächst. Dazu analysiert sie die Freiburger Vorlesungen zwischen 1934/35 und 1944. Es geht ihr darum, die zentralen Gedanken Heideggers in statu nascendi und in ihrer Entfaltung, in ihrer Kontinuität und Veränderung zu verfolgen. Eine solche Verfahrensweise ist um so mehr geboten, als in vielen bisherigen Forschungsarbeiten der Wegcharakter von Heideggers Denken nicht ernst genommen wird und frühere Positionen mit späteren unachtsam vermischt werden. Beachtet man dagegen das Weghafte dieses Denkens, so kann eine Reihe gängiger Forschungsmeinungen korrigiert werden. Zum Beispiel tritt die Zeit-Thematik in Heideggers Spätphilosophie keineswegs „deutlich in den Hintergrund“, sie hält sich vielmehr unter gewandelten Namen bis ans Ende seines Denkweges durch.