Im Schatten des Spiegelbaums
Erzählung
Maria Dörrhöfer
Die alte Frau trat zurück in den Schatten.
Sie betrachtete sich im Spiegel und sah den Baum. Dann wählte sie zwei Äste und begann, in das eigene, schlafende, stille Haus zu treten. Lange schlummerten die Worte in ihr, verbraucht, vergessen, zerbrochen zwischen Augenblicken, doch nachdem sie einmal begonnen hatte, sich zu erinnern, gab es kein Halten mehr. Alles kam wieder: die Träume, die Ängste, tausend Zärtlichkeiten mitsamt ihrer Wehmut, Vorräte an Bildern, angesammelt ein ganzes Leben lang.
Sie erinnerte sich ihres verratenen Kindertraums und ihrer großen Liebe in einer Zeit, die nicht geeignet war für eine Liebe, denn Jonathan war Jude.
Erst jetzt im Altwerden sah sie das Ganze der Dinge und begriff die Zusammenhänge. Und so begann sie, den Staub der Zeit wegzupusten.
Denn wer sonst würde die Fäden aufnehmen und die Antworten geben?