In der Verbannung
Kindheit und Jugend einer Wolgadeutschen
Lydia Hermann
»Als wir im Dorf Stepnoi Kutschuk angekommen waren, hatte sich vor dem Gemeinschaftshaus eine Menschenmenge angesammelt. Diese teilte sich nun und ließ einen schmalen Durchgang frei. Mit gesenktem Kopf schlängelte ich mich durch die Menge. Ich beobachtete dabei einige Mädchen in meinem Alter, welche sehr ärmlich gekleidet waren. Sie trugen Röcke aus Sackstoff, kombiniert mit langen Jacken. Diese wiederum wurden mit Stricken zusammengehalten. Sie schauten mich schweigend an, und ich schämte mich, daß ich besser aussah. Ich hätte zu gern gewußt, was sie jetzt dachten, als sie mich in meinem karierten, kaum über die Knie gehenden Kleid und den schönen Schuhen sahen. Über meinem Kleid trug ich eine Jacke, hatte ein bordeauxfarbenes Hütchen auf und Schleifen in den Zöpfen. Ich dachte nur, ob diese Mädchen irgendwann mit mir befreundet sein werden?«
So begann 1941 die qualvolle Verbannung der zwölfjährigen Lydia Hermann als »Njemka« (Deutsche) nach Sibirien – wo den Wolgadeutschen ein »friedlicher Genozid« (Wolfgang Ruge) bevorstand. Ihre einzigen Verbrechen bestanden in einer »falschen« Sprache und einer selbständigen Kultur.
Ein Dokument des Überlebens – dort, wo alle zum Sterben vorgesehen waren.