journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens
No. 6: Kochperspektiven
Thomas Vilgis, Martin Wurzer-Berger
Luxusprobleme. So die lakonische Bemerkung eines nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten bei einer kurzen Präsentation des Journal Culinaire. Die Themen aus den Ausgaben „Nahrungsmittelallergien …“ und „Geschmacksbildung“ – alles Luxusprobleme?! Das macht aus mehreren Gründen nachdenklich. Schließlich hat der Mandatsträger in einem kleinen Betrieb des Nahrungsmittel produzierenden Handwerks eine Ausbildung abgeschlossen, sich weitergebildet und ist nun Professor im geisteswissenschaftlichen Bereich. Er gilt in seiner Fraktion als ausgewiesener Spezialist für Kunst und Kultur und ist leiblichen Genüssen gegenüber durchaus aufgeschlossen. Offensichtlich zählt die ‚Kulinaristik‘ für ihn nicht zur ‚Kultur‘ oder zur ‚Wissenschaft‘.
Damit steht er, gerade in der Bundesrepublik Deutschland, nicht allein. Der durchaus kostspielige Besuch einer hochklassigen Theateraufführung oder eines Konzerts mit internationalen Stars und selbst ein Popevent im Stadion ist in weiten Kreisen auch der intellektuellen Eliten problemloser zu kommunizieren als das Bekenntnis: Ich war bei einem Sternekoch. Von wenigen Ausnahmen abgesehen findet eine Beschäftigung mit dem Essen auch in der politischen Diskussion nicht statt. Eine dieser Ausnahmen ist der Aspekt der Gesunderhaltung. Dem unbedarften Außenstehenden könnte sich der Eindruck aufdrängen, als sei Essen an sich ungesund, vom Trinken ganz zu schweigen. Eine Fülle politischer Maßnahmen soll gegenwärtig und auch in naher Zukunft dafür sorgen, dass gerade Kinder gesund ernährt werden. Sie zielen vor allem auf Verhaltensänderungen von Eltern und Erziehern.
In diesem Zusammenhang wird zweierlei übersehen: Erstens kann sich emanzipiertes Ess- und Trinkverhalten nur aus einer ausreichend guten Wissensbasis heraus entwickeln. Dazu gibt es in Deutschland nur unzureichende Konzepte, auch weil bei den Entscheidungsträgern selbst eine solche Wissensbasis häufig nicht vorhanden ist. Und – man sollte es ruhig ganz offen ansprechen – in wichtigen Ernährungsfragen bewegen wir uns trotz aller zur Schau getragenen Selbstsicherheit – zum Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Ernährung –, auf erstaunlich dünnem Eis.