Krötenarie
Als Liechtenstein reich wurde 1950–1975. Ein Lesestück
Stefan Sprenger
Paul und Paula hätten gern ein Auto. Ossi wittert Geschäftsmöglichkeiten. Theres vertraut darauf, dass die Gottesmutter den Kommunismus zertreten wird. Das ist Liechtenstein in den Fünzigerjahren: die Mentalität bäuerlich, die Verhältnisse bescheiden, die Weltsicht streng katholisch. Und doch zieht ein Duft durch das Land, ein Duft von Welt und fremdem Geld. Betört stürzt man sich kopfüber in das Abenteuer, ohne Vorbereitung und über Nacht reich zu werden – sehr reich.
Das Lesestück «Krötenarie», 2015 uraufgeführt, erzählt in szenischer Form die Adoleszenz des Finanzplatzes Liechtenstein, das Vierteljahrhundert zwischen 1950 und 1975, in dem das Geldwesen sich im Fahrwasser des europäischen Nachkriegsbooms zur Wirkmacht im Kleinststaat entwickelt und einen Entwicklungsschub auslöst, der mehr als ein halbes Jahrhundert anhalten und Liechtenstein von Grund auf verändern wird.
Die Eckdaten sind mit Bedacht gewählt: 1950 ist der Staat Liechtenstein nicht mehr den Verwerfungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zugekehrt, sondern sucht im Rahmen einer zweiten Industrialisierung den Strukturwandel von der Agrargesellschaft zum Werkplatz – ohne zu ahnen, dass ungeplant und parallel dazu ein finanzieller Dienstleistungssektor beinahe aus dem Nichts ins Kraut schiessen wird.
Die «Unschuld» dieser Anfänge wiederum ist spätestens 1975 zu Ende: Die Gewieften haben inzwischen begriffen, was im radikal-liberalen Rahmen des Personen- und Gesellschaftsrechts in Liechtenstein alles legal gedreht werden kann, und praktizieren das mit Hingabe, bis dem Fürstentum 1977 mit dem Chiasso-Skandal das wohlfeile Laissez-faire um die Ohren fliegt und mit den danach erzwungenen Reformen die wilde Pionierphase des Liechtensteiner Finanzplatzes beendet ist.