Kurs auf die entwickelte Diktatur
Walter Ulbricht, die Entmachtung Ernst Wollwebers und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes 1956/57
Roger Engelmann, Silke Schumann
Die Ende 1956 einsetzenden Auseinandersetzungen zwischen Ulbricht und dem Minister für Staatssicherheit Ernst Wollweber, die mit dessen Rückzug aus dem Amt und Ausschluss aus dem Zentralkomitee der SED endeten, haben in mehrfacher Hinsicht Schlüsselbedeutung für die Geschichte der SED-Herrschaft. Sie sind Ausdruck des Übergangs von der kurzen „Tauwetterperiode”, die im Frühjahr 1956 nach dem XX. Parteitag der KPdSU und der 3. Parteikonferenz der SED eingesetzt hatte, zu einer neuerlichen Verhärtung der Herrschaftsstrukturen. Sie gehen außerdem einher mit der umfassenden Übernahme der Anleitungsfunktion der SED gegenüber dem MfS, die in der Vergangenheit zu einem wesentlichen Teil von den sowjetischen Beratern wahrgenommen worden war, und mit einer grundlegenden Neubestimmung und Neuordnung der Arbeit des Staatssicherheitsdienstes. Schließlich zeigen sie Bedingungen und Rituale eines der entscheidenden Machtkämpfe innerhalb der Führungselite des SED-Regimes.
Jüngere Veröffentlichungen haben schon Einblicke in dieses Geschehen eröffnet, besonders ein 1990 publiziertes autobiographisches Fragment von Wollweber aus dem Jahre 1964. Dieses zeichnet in erster Linie ein Persönlichkeitsbild Ulbrichts und hebt den Aspekt der Machtauseinandersetzung zwischen den beiden Kontrahenten hervor. Die nunmehr in den Archivbeständen der SED und des MfS aufgefundenen Quellen unterstreichen den Wert dieses Dokuments, beleuchten aber ungleich stärker die politisch-strukturelle Dimension der Vorgänge im Kontext der SED-Herrschaftsgeschichte.