MARIENTAL. XVIII. – XIX. Jahrhundert (Wolgadeutsches Gebiet)
Denkschrift über den Ansiedlungszustand der Einwanderer und die Geschlechterlinien unserer Stammfamilien in Russland
Anton Schneider, Antonina Schneider-Stremjakowa
Im zweisprachigen deutsch-russischen Buch (492 S.) von Anton Schneider (1798–1867) finden ihre Widerspiegelung: Geschichte des Familienstammes; Ankunft der ersten Kolonisten in Russland; Nomadenüberfälle; Vormundschaftskontor für Ausländer; Ignoranz und Unbildung der Machtinhaber; Sittenverfall; Willkür und Entstehen von Auflehnung; religiöser Zustand in den Anfangsjahren; über die Jesuiten und die polnischen Missionare; Missjahre und Träume vom Schwarzmeergebiet: Meinung über die Geistlichen, Eltern und Kinder; Kirchenbau; Gedichte und eine Liebesgeschichte; eine Kopie von in gotischer Schrift verfassten Manuskripten
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In jüngster Zeit sind in relativ kurzer Abfolge mehrere, zumeist russischsprachige Publikationen, über die ältere Geschichte der deutschen Kolonien an der Wolga erschienen. In diese Reihe gehören auch die vorliegenden Aufzeichnungen von Anton Schneider, die in erster Linie der Geschichte der Kolonie Mariental gewidmet sind, zugleich aber einen Einblick in die allgemeine Entwicklung und
Verwaltung der deutschen Kolonien und in die Geschichte des Katholizismus im Wolgagebiet der Niederlassung der Deutschen an der Wolga bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gewähren und mit zu den ältesten und wichtigsten Quellen zur Geschichte der Wolgadeutschen gehören.
Anton Schneider wurde am 26. März 1798 in der wolgadeutschen Kolonie Marinetal am Großen Karaman geboren. In der Schule erhielt er keine bessere Ausbildung als die meisten anderen Kolonistenkinder, doch seine Wissensbegierde und der mit größtem Eifer betriebene Selbstunterricht brachten ihm so viel Anerkennung, dass seine Mutterkolonie ihm das Schulmeisteramt übertrug. Diese Stelle verwaltete er 25 Jahre lang mit äußerst genauer Sorgfalt, musste sie aber infolge von Intrigen einiger seiner Widersacher aus dem Kreis- und Kolonieamt niederlegen und sich weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Nun konnte er sich dafür um so eifriger der „bereits begonnenen Bücherschreiberei“ widmen und alles, was er Vater und Großvater abgelauscht, was er selbst gesehen und erfahren hatte, „zur Belehrung der Nachkommenschaft“ niederschreiben. Seine Aufzeichnungen handeln vom Beginn der Auswanderung der Deutschen nach Russland, von ihrer Ankunft im Wolgagebiet, den großen Enttäuschungen und Schrecken nach ihrer Niederlassung, den Überfällen der in der Wolgasteppe seit Jahrhunderten nomadisierenden den Stämmecauf die deutschen Kolonien, den Missernten und Krankheiten, dem Kontor für die ausländischen Ansiedler und seinen Beamten, den missionierenden Jesuiten und den katholischen Priestern aus Russisch-Polen.
Aus der Feder von Anton Schneider stammen darüber hinaus zahlreiche Beiträge für den von ihm herausgegebenen Haus- und Landwirtschaftskalender, ein Buch über die geoffenbarte Religion, zwei Gebetbücher. Er trug Lieder zusammen für zwei Sammlungen von Kirchenliedern und ein Buch der Volkslieder, er schrieb die allererste Fassung der „Geschichte vom Kirgiesenmichel und der schön‘ Ammi von Mariental“. Von den Jesuiten in Latein und im Gregorianischen Kirchengesang unterrichtet, sammelte er die in den katholischen wolgadeutschen Kolonien gesungenen deutschen Kirchenlieder und versah diese mit Figuralnoten, womit er eigentlich die bei den katholischen Wolgadeutschen üblichen Gesangsweisen rettete. Dies brachte ihm den Ruf des Schöpfers der „Figuralämter“, u. a. des „Marientaler Hochamts“, ein.
Doch zu seinen Hauptleistungen gehören neben den beiden vorliegenden Arbeiten auch die etwas umfangreicheren „Lebensbilder der Kolonisten im Saratowschen und Samarschen Gouvernement auf beiden Seiten der Wolga als wie auch deren Ansiedlung, Einrichtung und Wirtschaft derselben bis auf gegenwärtige Zeit“, niedergeschrieben 1863. Diese Erinnerungen und Aufzeichnungen, obwohl sie eine starke subjektive Prägung aufweisen und zuweilen den modernen Erkenntnissen nicht standhalten, bieten dennoch reichhaltiges und wertvolles Material zur Erweiterung unserer Kenntnisse über die Geschichte der deutschen Ansiedler an der Wolga.
Die 1855 verfasste „Denkschrift über den Ansiedlungszustand der Einwanderer und die Geschlechterlinie unserer Stammfamilien in Russland als wie auch über die merkwürdigsten Begebenheiten und Ereignisse in und außerhalb unserer Familien von dieser bis in die gegenwärtige Zeit“ und die im selben Jahr niedergeschriebene Ansicht über den Kirchenbau der hiesigen Kolonie unter dem Titel: „Himmelfahrt der allerseligsten Jungfrau Maria“ werden hier unter dem gemeinsamen Titel „Aus der Geschichte der wolgadeutschen Kolonie Mariental“ zusammengefasst.