Moralerziehung zwischen Wertorientierung und Wirklichkeitsbezug
Friedrich Kümmel
Moralerziehung zwischen Wertorientierung und Wirklichkeitsbezug (Kurzfassung B)
Werterziehung verlangt wie jede Erziehung die Anwendung aufs Exempel, und diese ist in einer multidimensionalen Wirklichkeit eine nicht leicht zu lösende Aufgabe. Schon die Frage, womit eine Werterziehung beginnen kann, ist strittig und führt zu unterschiedlichen Antworten. Sind es die Regeln und Ordnungen des Schullebens, deren Notwendigkeit ja ein jeder irgendwie einsieht, oder ist es das Fühlen von qualitativen Unterschieden im sozialen Klima und im Verhalten, das man beim Kind mehr noch als beim Erwachsenen voraussetzen kann, solange es nicht systemkonform einsozialisiert und betriebsblind gemacht worden ist?
Die Begründung von Moralität im Spannungsfeld zwischen emotionaler Verankerung von Werthaltungen und moralischer Aufklärung und Kritik
In den älteren Formen moralischer Erziehung ging es im Zusammenhang mit der Tugendlehre und Herbarts Konzeption einer Erziehung zur sittlichen Charakterstärke grob gesagt um die emotionale Verankerung von Werthaltungen, in sozialwissenschaftlicher Terminologie gesprochen um die Internalisierung von Normen und Werten auf dem Wege der Identifikation. Eine solche Identifikation und Nachahmung kann unterstützt werden durch idealisierende Formen der Darstellung vorbildlichen Lebens, wie es in geschichtlichen Gestalten zutage tritt. Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammenhang jedoch die unmittelbare Teilnahme an prägenden Lebensformen und ihre Einübung im Miterleben, Mitwollen und Mittun. Ein Lernen dieser Art ist in der neueren Didaktik häufig kritisiert worden, fehlt ihm doch das Moment rationaler Widerspruchsfreiheit und der Ansatzpunkt für Kritik. Man kann jedoch davon ausgehen, daß gelebte Teilnahme und Mitvollzug für jede Form von gelingender Erziehung nach wie vor von fundamentaler Bedeutung sind.
Der neuere, von vielen Erziehern und Lehrern bevorzugte Typus sittlicher Erziehung folgt dem Zug des Aufklärungsdenkens und zentriert sich auf die Reflexion, Begründung und Kritik von Geltungsansprüchen, seien diese gesellschaftlicher oder moralischer Natur. Die Frage nach der Legitimität von Geltungsansprüchen folgt einem rationalen Handlungstypus und rekurriert auf die im Rahmen zweckfunktionaler Systembetrachtung entwickelten Mittel zur Entscheidungsfindung, Konsensbildung und Kritik.
Daß beide Konzeptionen sich reiben und im Prinzip ausschließen, ist unmittelbar einsichtig. Aber es ist auch nicht möglich, eine Entscheidung zwischen ihnen zu treffen. Beide haben im Blick auf die sittliche Erziehung ihre je besonderen Vorteile, aber auch ihre spezifischen Mängel und verhalten sich darin komplementär zueinander. Dies legt bei aller Gegenläufigkeit in der Tendenz eine Verbindung nahe, und dies um so mehr, als jede der beiden Konzeptionen für sich genommen ethisch zweideutig bleibt und der Moralität wie der Unmoralität in gleicher Weise dienen kann.
Das Bemühen um die emotionale Verankerung von Werthaltungen hat darin ein unbestreitbares Recht, daß hier auf der Seite praktischer Verwirklichung angesetzt wird und das Augenmerk auf den prägenden und emotional befriedigenden, also auch motivierenden und handlungsbestimmenden Formen liegt. Problematisch erscheint jedoch, daß die damit verbundenen Lernprozesse weithin unbewußt verlaufen und sich einer rationalen Aufklärung und Kritik oft genug widersetzen. Sie begünstigen eine Tendenz auf Konformität im Denken und Verhalten und führen leicht zur Verabsolutierung der eigenen Position. Aber auch der theoretisch zentrierte, rationale Typus moralischer Aufklärung ist ethisch zweideutig und bleibt in seiner unmittelbaren pädagogischen Anwendung nicht ohne Bedenken. Gegen ihn ließe sich einwenden, daß er mit seinem relativierenden Hinterfragen und Problematisieren möglicherweise zu früh einsetzt und bezüglich der Wahrnehmung von strukturellen Zusammenhängen das Kind überfordert. Vor allem aber haftet ihm die tiefere Zweideutigkeit an, daß Reflexionen dieser Art trickreiche „Rationalisierungen“ (im psychoanalytischen Sinn des Worts) nicht ausschließen können. Auch die Reflexion, und nicht nur Emotion kann selbstblind machen, so daß das ihnen jeweils zugrunde liegende Verhaltensmotiv nicht an die richtige Stelle gerückt und aufgearbeitet werden kann. Aber auch der Umstand, daß der Stellenwert rationaler Überlegung hinsichtlich des Handelns oft überschätzt wird, kann einer so begründeten sittlichen Erziehung zum Nachteil gereichen. Und schließlich muß man das sich zwingender Logik bedienende Rechthabenwollen des Verstandesdenkens in Betracht ziehen und einsehen, daß auch die Wahrheitsbehauptung oft nur ein Trick zur Überredung ist. Rationalität muß nicht eo ipso von höherer moralischer Qualität sein: Sie kann der gemeinsamen Verständigung und einer vernünftigen Praxis dienen, aber auch der Rechthaberei und der Abwehr von Ansprüchen, denen gegenüber man es vorzieht auf die allgemeine Ebene auszuweichen.
Auf beiden Seiten gibt es somit Vorzüge, aber auch Defizite und entsprechende Fehlformen einer sittlichen Erziehung. Während die emotionale Verankerung von Werthaltungen leicht zu direkten Abhängigkeiten führt, kommen auf der Ebene der Reflexion bevorzugt die mit der Negation verbundenen, aber nicht weniger bindenden Gegenabhängigkeiten (counter-dependencies) zum Tragen.
Um der ethischen Zweideutigkeit in beiden genannten Konzeptionen entgegenzuwirken, legt sich ihre ausdrückliche Verbindung nahe, und dies um so mehr, als sie sich auch in ihren Vorzügen und Stärken komplementär zueinander verhalten. Daß die ältere Konzeption der emotionalen Verankerung von Werthaltungen oft nicht genügend zwischen sozialer Geltung und moralischer Verpflichtung unterschieden hat und auch in den Mitteln sittlicher Erziehung freie Ansprache und soziale Nötigung nicht sorgsam trennte, läßt sich kompensieren durch eine moralische Überlegung, der es gerade auf diese Differenzen und in Verbindung damit auf die Übereinstimmung zwischen Zielen und Mitteln ankommt. Auch das chronische Begründungs- und Legitimationsdefizit autoritätsbezogener Lern- und Erziehungsformen ließe sich durch die Möglichkeit rationaler Begründung und Reflexion ausgleichen. Auf der anderen Seite aber könnte die freischwebende Reflexion in stärkerem Maße zurückgebunden werden an soziale Realitäten, die Individuallage und das konkret anstehende Handeln. Der für jede Form von moralischer Bewährung verlangte Test auf die Praxis enthebt das rationale Argumentieren der Gefahr, im Zeichen der Ideologiekritik unter der Hand selber ideologisch zu werden.
Daß es beide, dem Typus nach zu unterscheidenden Lern- und Bewußtseinsformen gibt und daß beide für den Menschen und sein Moralischwerden gleichermaßen unentbehrlich sind, bedarf keines besonderen Nachweises. Die moderne Gehirnforschung tut ein übriges, um die Tatsachen und Probleme eines strukturell wie funktional gedoppelten Bewußtseins ins Licht zu rücken. Aber auch wenn hier das Erfordernis der Verbindung beider ‘Hälften’ betont wird, möchte ich hinsichtlich der sittlichen Erziehung noch einen Schritt weitergehen und behaupten, daß nur in ihrer Verbindung die Möglichkeit moralischer Qualität enthalten, wenngleich nicht schon gewährleistet ist. Die geforderte Verbindung muß deshalb nach beiden Seiten hin sowohl affirmativ als auch selbstkritisch gehandhabt werden.
Das Positive beider Konzeptionen so zu verbinden, daß sich ihre Mängel gegenseitig kompensieren, ist allerdings keine leichte Aufgabe, weil sie der praktischen Tendenz nach gegenläufig zueinander sind und im reinen Fall sich geradezu ausschließen. Eine theoretisch konsistente Vereinigung dürfte aus diesem Grunde kaum möglich sein, wohl aber ihre praktische Verbindung. Theoretisch widersprüchlich Bleibendes läßt sich praktisch allemal verbinden, sobald ein Bewußtsein für die Unterschiede entwickelt ist. Das heißt nicht, auf Theorie verzichten zu können, auch nicht in praktischer Absicht. Eine Verbindung heterogener Konzeptionen kann dem einzelnen Erzieher schlecht angetragen werden, solange die Kontroverse über sie in gesellschaftliche Antagonismen eingelagert ist und mit rivalisierenden Parteiungen verbunden wird, die die eine Seite betonen und gegen die andere ins Feld führen. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß die Verbindung von heterogenen und miteinander im Streit liegenden Konzeptionen zwar theoretisch durchdrungen werden muß, nicht auf abstrakt-begriffliche Weise geleistet werden kann. Theorie wie Praxis muß an konkrete Lebensformen zurückgebunden werden muß, die das Widersprüchliche nicht ausschließen, sondern zu leben wissen. Es muß deshalb in einem weiteren Schritt nach verbindenden Lebensformen zweiten Grades gesucht werden, die die geforderte Mehrseitigkeit als Medium sittlicher Erziehung nicht nur dulden, sondern die verlangten Integrationsleistungen auch zu erbringen vermögen.
Das Gespräch als Ort und Lebensform sittlicher Erziehung
In diesem Sinne möchte ich als eine dritte, verbindende Konzeption das Gespräch vorschlagen als eine Lebensform, die zur Form sittlicher Erziehung in dem hier gemeinten doppelten Sinne werden kann. Das Gespräch, als Lebensform verstanden, trägt beiden genannten Konzeptionen in gleicher Weise Rechnung, es verbindet ihre beiderseitigen Vorzüge und mildert die mit ihrer einseitigen Ausprägung verbundenen Schwächen.
Bevor dieser Gedanke in der eingeschlagenen Richtung weiter ausgeführt werden kann, ist es nötig, auf das Verhältnis von Mensch und Sprache im allgemeinen zurückzukommen. Es wurde bereits festgestellt, daß eine präskriptive und imperativische Sprachform den moralischen Inhalt ihrer Weisung nicht bereits garantiert und als solche noch nichts zur sittlichen Bildung des Menschen beiträgt. Eine solche Sprachform liegt auch den unsittlichen Verhältnissen zugrunde und ist in ihrer ausschließlichen Verwendung auf diese beschränkt. Demgegenüber ist es nötig, auf andere Formen des Miteinanderredens zu rekurrieren, die moralisch nicht neutral sind und deren Bedeutung sich nicht auf Handlungsanweisungen reduzieren läßt. Medium einer so verstandenen Sprache ist nicht das Tun, sondern das Denken, in dessen Horizont jenes erst seine menschliche Bedeutung erhält.
Eine moralische Reflexion kann nur gemeinsam sein und bezogen auf die je eigene leibliche, seelische und geistige Verfassung. Das Gute muß in ihr am eigenen wie am fremden Tun und Ergehen aufgezeigt, benannt und ausgezeichnet werden und kann nur so auch ein solches sein. Das Miteinandersprechen schafft in der Verbindung der Menschen und Zeiten selber eine moralische Verbindlichkeit. Es ist die Bedingung der Möglichkeit, sich in den Ort des Anderen zu versetzen und von daher zu verstehen. Wenn nun aber die menschliche Realität eine ausgesprochene, mitgeteilte und in der Mitteilung verstandene Realität ist, hat auch das Moralische seine eigentliche Wirklichkeit in der Sprache und nur durch diese auch im Tun. Der Mensch ist als ein moralisches Wesen selbst Sprache und Zeichen.
Die zentrale Form, in der die menschliche Gemeinschaft sich als Sprache realisiert, ist das Gespräch. Es ist konstitutiv für die sittliche Wirklichkeit, weil nur in ihm ein freies Verhältnis von Menschen zustande kommen und sich unerachtet aller Zwänge und Brechungen durchhalten kann. Nicht der Konsens, sondern die Friktionen der Wechselrede sind für die Gesprächsform konstitutiv. Die Weise des Gesprächs ist die Anregung und nicht die Nötigung. Den Gedanken der freien, nicht verletzenden Vermittlung des auf keine Weise auszuschließenden Widerspruchs aufnehmend, kann man sagen: Das menschliche Gute realisiert und erfüllt sich im Gespräch. Die Bedingungen seiner Möglichkeit sind identisch mit den Bedingungen der Ausbildung einer sittlichen Haltung. Was ein nie zu erzwingendes Gespräch zustande bringt und unterhält, fördert auch das sittliche Wesen des Menschen.
Die Bedingungen des Gesprächs sind nicht außerhalb von ihm schon vorhanden; es bildet vielmehr seine eigenen Voraussetzungen durch sich selbst erst aus und wirkt darin dem ständigen Verfall der Gemeinschaft entgegen. Hier ist Gehlen recht zu geben: „Das Zeitalter der Vermassung ist das Zeitalter der kleinen Sondergruppierungen, der Vertrauensbeziehungen, für die man sich einsetzt und wirklich etwas tut, der Teams, die Gleichgesonnene kooptieren. alle diese kleinen Bindungen zusammen machen so etwas wie den Zement des Gesamtgebäudes der Gesellschaft aus. Was so laut den Vordergrund einnimmt: die großen Zweckorganisationen und die hineingeschütteten Einzelnen, das ist keineswegs die ganze Wahrheit.“ Auch wenn so über die verhandelten Inhalte noch gar nichts ausgesagt ist, meine ich, daß die gepflegte und durchgehaltene Gesprächsform selbst als solche schon eine sittliche Wirkung, ja die entscheidende sittliche Wirkung hat. Ohne die Gemeinschaft des Denkens im Gespräch gäbe es auch keine Gemeinsamkeit des Tuns und keine moralische Qualität der Handlung.
Ich verstehe das Gespräch hier also nicht in einem unbestimmten Sinn als stellvertretend für alle möglichen Redeformen, sondern ganz spezifisch als die einzige menschliche Lebensform, die die volle Freiheit aller Teilnehmer wahrt und zugleich die größte Verbindlichkeit zwischen ihnen schafft. Die Freiheit des Gesprächs ist auch für das moralische Sichverstehen konstitutiv. Ein so verstandenes Gespräch hat keine Instanz der Entscheidung außer sich selbst: Was man als Hörbereitschaft und Verständigungsmöglichkeit in das Gespräch einbringen kann, ist in ihm erst gewachsen.
Nun wäre es nicht schwer, in der Form des Gesprächs alle jene Züge nachzuweisen, auf die es mir auch in den bisherigen Erörterungen ankam: seine Wechselseitigkeit und Solidarität, den ständigen Rückgang auf allgemeine Lebensansichten ineins mit einer zunehmenden Konkretisierung und Erhellung der Situation, seine Verträglichkeit für bleibende Differenzen und schließlich seine Kraft, Verfremdungen abzubauen und Versteifungen wieder zu lösen. Ein Gespräch ist bekanntlich ja nicht nur zwischen Vertrauten, sondern auch und gerade zwischen Fremden möglich. Wenn sich die Grenzen der Gesprächsbereitschaft nicht vorweg abstecken lassen, folgt schon aus der grundsätzlichen Möglichkeit des Gesprächs, daß ein sittlicher Konsens erreichbar sein muß und der Relativismus der Weltanschauungen nicht das letzte Wort hat.
Die im Gespräch verwirklichte Gemeinschaft bedarf deshalb, um offen zu bleiben, einer doppelten Polarisation. In ihm verbinden sich die kleinen Kreise der Lebensgemeinschaften, die sich nur in beständigen und intensiven persönlichen Beziehungen erfüllen können. Zugleich aber hat das Gespräch die Tendenz, über den kleinen Kreis hinaus am allgemeinen Geschehen teilzunehmen und die engen Verhältnisse nach außen hin zu öffnen. Die sittliche Verpflichtung wird zwar geboren im persönlichen Bezug von Menschen, aber sie muß diesen notwendig überschreiten und Verantwortung für das Ganze übernehmen. In der nicht institutionalisierbaren Jeweiligkeit seines Zustandekommens bildet sich im Gespräch auch das öffentliche Bewußtsein aus.
Auch die weite Beziehung ist notwendig sprachlicher Natur und kann vom Handeln, das einen engeren Radius hat, nur teilweise übernommen werden. Verbindet man im Gespräch das Individuelle und das Allgemeinmenschliche, das Lokale und das Globale, so kann sich daraus erst ein sittliches Bewußtsein ergeben, das die Zirkulation der engsten Beziehungen mit der Teilnahme am größeren Geschehen verbindet. Der für das Moralische konstitutive Doppelkreislauf verlangt, das Bewußtseim aus seinen einseitigen Festlegungen, sei es auf die Gefühlssphäre oder auf das Rationale, herauszubringen und beides füreinander zu öffnen. Wo man in der Übernahme öffentlicher Verantwortung auf emotionale Bereitschaften nicht mehr kann, muß die denkende Einsicht sagen was zu tun ist. Sie kann es aber nur, wenn sie auf jene Wurzelregion zurückbezogen bleibt, aus der menschliches Tun und Lassen sich speist.
Grenzen der Gesprächsführung
Gleichwohl muß man auch die Grenzen der Gesprächsführung sehen in einer Gesellschaft und Erziehung, die trotz aller guten Vorsätze und Ideale ohne Druckmittel und Zwänge nicht auskommen zu können glaubt. Es nützt nichts, das Ideal einer offenen Beziehung und zwangsfreien Erziehung aufzustellen, solange man nicht gelernt hat, mit den nach wie vor bestehenden Zwängen und Nötigungen anders als bisher umzugehen. Innere und äußere Zwänge und Zwangslagen lassen sich nicht einfach aus der Welt schaffen, und ein Ende der Gewalt tritt nicht von selber ein. Wie aber soll das Dilemma des Umgangs mit Gewalt so gelöst werden, daß diese aufhört, in endloser Kette Gleiches mit Gleichem zu vergelten? Gleich dilemmatisch können die menschlichen Bindungen werden. Was soll man z. B. mit verstörten Kindern tun, die, aus welchen Gründen auch immer, den Kontakt verweigern, autistisch werden und für pädagogisches Handeln nicht mehr ansprechbar sind? Hier muß man lernen mit Verweigerungen und Widerständen umzugehen, die Ausdruck eines inneren Gefängnisses sind und gar nicht mehr dem freien Willen unterliegen. Der so sich manifestierenden Gewalt gegenüber ist auch das Gespräch oft hilflos und der moralische Appell müßig. Wie soll der Erzieher mit einer durch Verweigerung, Angst und Aggression bestimmten Beziehungsdynamik umgehen, in der er das Kind nicht mehr erreicht.
Man kommt hier nicht umhin, nach hilfreichen Formen von gewaltfreier Gegen-Gewalt zu suchen, die die Kette sprengen und geeignet sind, aus den für beide Seiten ausweglos werdenden Abwehrhaltungen herauszuführen. Bei autistischen Kindern bewährt sich oft die paradoxe bzw. übergegensätzliche Methode des „Festhaltens“ (forced holding), mit der man dem wegfliehenden und den Kontakt zu anderen wie zu sich selber verlierenden Kind einen ‛Kontakt im Widerstand’ anbietet und den inneren Zwang gleichsam durch den äußeren Zwang erlöst. Hier führt erst die schmerzliche Erfahrung des Scheiterns der Liebe zu der Einsicht, daß man die Alternative einer zwingenden oder freigebenden Erziehung hinter sich lassen muß, um der Schwierigkeit der Lage gerecht werden zu können. In letzter Instanz ist Gewalt nur durch eine Verbindung von Liebe und Gewalt zu erlösen.
Im Kontext einer solchen, selber paradox werdenden und darin widersprüchlich erscheinenden Handlungsanweisung werden alle Handlungen mehrsinnig und nehmen eine übergegensätzliche Form an. Es gilt hier nicht mehr die alte logische Gleichung: daß Zwang zu Zwang führt und Freigabe zu Freiheit, und daß in pädagogischer Absicht beides säuberlich getrennt gehalten werden muß. Erst das Ärgernis paradoxer Handlungsanweisungen begründet auch die Möglichkeit des Umschlags in eine neue Qualität. Mit anderen Worten kann jeder in die Beziehung eingebrachte Wirkungsfaktor eine positive oder negative Wertigkeit annehmen. Gewechselt werden kann diese nur gemäß dem gemeinsamen Nenner, der den Gesamtvorgang bestimmt. Der Gesamtvorgang kann folglich nur umgestimmt werden, wenn die heterogenen Qualitäten der Flucht und der Nähe, des Widerstandes und des Kontakts, der Bindung und Freiheit, Angst und Liebe sich innerlich berühren und in paradoxer Koinzidenz ineinander umschlagen. Es sind dieselben Ängste, Zwänge und Fluchten, die einen Fall hoffnungslos machten und die nun an der befreienden Lösung mitarbeiten, ja in Verbindung mit der Liebe einen Hauptanteil an ihr haben können.
Die Konsequenz aus dem Gesagten ist, daß nur der, der beides: seine Gewaltphantasien und seine Freiheitsideale, hinter sich lassen kann, in schwierigen und aussichtslos scheinenden Lagen wirksame Hilfe zu leisten vermag. Das Fazit aus der Arbeit mit schwererziehbaren borderline-Kindern lautet: „Liebe allein genügt nicht.“ (Bruno Bettelheim ) Unklarheiten und Mißverständnisse sind bei paradoxen Handlungsanweisungen nicht auszuschließen, weil mit jeder Handlungsweise Verschiedenes, ja Gegensätzliches gemeint sein kann; von außen her kann man sie gar nicht beurteilen und schon gar nicht in eine Alternative pressen. Um so mehr bedarf es einer gesteigerten Achtsamkeit, Sensibilität und Vertrauensbereitschaft. Ohne solche Tugenden geht es nicht, wenn alles darauf ankommt, zu spüren und spüren zu lassen, was das ist was getan wird. Das äußerlich verwechselbar Erscheinende ist in Wirklichkeit gar nicht verwechselbar. Es liegt immer in der Erfahrung einer positiven Qualität, von der letztlich alles abhängt. Einziges Kriterium ist dann der Verlauf des Prozesses selbst, der den guten Sinn einer Sache von ihrem Mißbrauch unterscheidet.
Verallgemeinernd kann gesagt werden, daß alles und jedes, was in der Erziehung getan wird, einen verderblichen und einen guten Sinn annehmen kann, je nach dem Kontext und der Art und Weise des Umgangs damit. Nicht das Was im Sinne äußerer Etikettierung, sondern das Wie des Umgangs mit einer Sache entscheidet über deren Qualität. Dies verlangt Vorurteilsfreiheit im Umgang mit gegebenen Möglichkeiten, die nicht an einem wertenden Alternativschema gemessen werden dürfen. Viele Möglichkeiten tun sich erst in einem ‛Jenseits von Eden’ auf, auch und gerade die moralisch gebotenen Möglichkeiten. Insofern darf auch die Ethik auch nicht vor der Paradoxie Halt machen. Vorurteilsfrei im wissenden Sinne kann nur der sein, der sich in seinem Geschäft nicht mehr von Wertungsalternativen leiten läßt und das wirkliche Entweder-Oder an einer anderen Stelle sucht. So kann auch die Gewalt eine Äußerungsform sein, die je nach dem ihr zugrunde liegenden Motiv in die Hölle führt oder den Weg aus ihr heraus zeigt. EINLEITUNG
Die Begründung von Moralität im Spannungsfeld zwischen emotionaler Verankerung von Werthaltungen und moralischer Aufklärung und Kritik
In den älteren Formen moralischer Erziehung ging es im Zusammenhang mit der Tugendlehre und Herbarts Konzeption einer Erziehung zur sittlichen Charakterstärke grob gesagt um die emotionale Verankerung von Werthaltungen, in sozialwissenschaftlicher Terminologie gesprochen um die Internalisierung von Normen und Werten auf dem Wege der Identifikation. Eine solche Identifikation und Nachahmung kann unterstützt werden durch idealisierende Formen der Darstellung vorbildlichen Lebens, wie es in geschichtlichen Gestalten zutage tritt. Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammenhang jedoch die unmittelbare Teilnahme an prägenden Lebensformen und ihre Einübung im Miterleben, Mitwollen und Mittun. Ein Lernen dieser Art ist in der neueren Didaktik häufig kritisiert worden, fehlt ihm doch gänzlich das Moment rationaler Widerspruchsfreiheit und der Ansatzpunkt für Kritik. Man kann jedoch davon ausgehen, daß gelebte Teilnahme und Mitvollzug für jede Form von gelingender Erziehung nach wie vor von fundamentaler Bedeutung ist.
Der neuere, von vielen Erziehern und Lehrern bevorzugte Typus sittlicher Erziehung folgt dagegen dem Zug des Aufklärungsdenkens und zentriert sich auf die Reflexion, Begründung und Kritik von Geltungsansprüchen, seien diese gesellschaftlicher oder moralischer Natur. Die Frage nach der Legitimität von Geltungsansprüchen folgt einem rationalen Handlungstypus und rekurriert auf die im Rahmen zweckfunktionaler Systembetrachtung entwickelten Mittel zur Entscheidungsfindung, Konsensbildung und Kritik.
Daß beide Konzeptionen sich reiben und im Prinzip ausschließen, ist unmittelbar einsichtig. Aber es ist nicht leicht eine Entscheidung zwischen ihnen zu treffen. Beide haben im Blick auf die sittliche Erziehung ihre je besonderen Vorteile, aber auch ihre spezifischen Mängel und verhalten sich darin komplementär zueinander. Dies legt bei aller Gegenläufigkeit in der Tendenz eine Verbindung nahe, und dies um so mehr, als jede der beiden Konzeptionen für sich genommen ethisch zweideutig bleibt und der Moralität wie ihrem Gegenteil in gleicher Weise dienen kann.
Das Bemühen um die emotionale Verankerung von Werthaltungen hat darin ein unbestreitbares Recht, daß hier auf der Seite praktischer Verwirklichung angesetzt wird und das Augenmerk auf den prägenden und emotional befriedigenden, also motivierenden und handlungsbestimmenden Formen liegt. Problematisch erscheint jedoch, daß derartige Lernprozesse weithin unbewußt verlaufen und sich einer rationalen Aufklärung und Kritik oft genug widersetzen. Sie begünstigen eine Tendenz auf Konformität im Denken und Verhalten und führen leicht zur Verabsolutierung der eigenen Position.
Aber auch der mehr theoretisch zentrierte, rationale Typus moralischer Aufklärung bleibt ethisch zweideutig und in der unmittelbaren pädagogischen Anwendung nicht ohne Bedenken. Gegen ihn ließe sich einwenden, daß er mit seinem relativierenden Hinterfragen und Problematisieren möglicherweise zu früh einsetzt und bezüglich der Wahrnehmung von Strukturzusammenhängen das Kind überfordert. Vor allem aber haftet ihm die tiefere Zweideutigkeit an, daß Reflexionen dieser Art auch trickreiche „Rationalisierungen“ (im psychoanalytischen Sinn des Worts) sein können, die ebenso wie die Emotion selbstblind machen und das ihnen zugrunde liegende Verhaltensmotiv nicht an die richtige Stelle rücken und aufarbeiten können. Aber auch der Umstand, daß der Stellenwert rationaler Überlegung hinsichtlich des Handelns hier oft überschätzt wird, kann einer so begründeten sittlichen Erziehung zum Nachteil gereichen. Und schließlich muß man das sich zwingender Logik bedienende Rechthabenwollen des Verstandesdenkens in Anschlag bringen und dem entgegenhalten, daß auch die Wahrheitsbehauptung oft nur ein Trick zur Überredung ist. Rationalität muß also nicht eo ipso von höherer moralischer Qualität sein, sie kann der gemeinsamen Verständigung und einer vernünftigen Praxis ebenso dienen wie der Rechthaberei und der Abwehr von konkreten Ansprüchen, denen gegenüber man es vorzieht auf die allgemeine Ebene auszuweichen.
Auf beiden Seiten gibt es somit Vorzüge, aber auch Defizite und entsprechende Fehlformen einer sittlichen Erziehung. Während die emotionale Verankerung von Werthaltungen leicht zu direkten Abhängigkeiten führt, kommen auf der Ebene der Reflexion bevorzugt die mit der Negation verbundenen, aber nicht weniger bindenden Gegenabhängigkeiten (counter-dependencies) zum Tragen.
Um der ethischen Zweideutigkeit in beiden genannten Konzeptionen entgegenzuwirken, legt sich ihre ausdrückliche Verbindung nahe, und dies um so mehr, als sie sich auch in ihren Vorzügen und Stärken komplementär zueinander verhalten. Daß die ältere Konzeption der emotionalen Verankerung von Werthaltungen oft nicht genügend zwischen sozialer Geltung und moralischer Verpflichtung unterschieden hat und auch in den Mitteln sittlicher Erziehung freie Ansprache und soziale Nötigung nicht sorgsam trennte, läßt sich kompensieren durch eine moralische Reflexion, der es gerade auf diese Differenzen und auf die Übereinstimmung zwischen Zielen und Mitteln ankommt. Auch das chronische Begründungs- und Legitimationsdefizit autoritätsbezogener Lern- und Erziehungsformen ließe sich durch die Möglichkeit rationaler Begründung und Reflexion ausgleichen. Auf der anderen Seite aber könnte die freischwebende Reflexion in stärkerem Maße zurückgebunden werden an soziale Realitäten, die Individuallage und das konkret anstehende Handeln. Der für jede Form von moralischer Bewährung verlangte Test auf die Praxis enthebt das rationale Argumentieren der Gefahr, im Zeichen der Ideologiekritik unter der Hand selber ideologisch zu werden.
Daß es beide, dem Typus nach zu unterscheidende Lern- und Bewußtseinsformen faktisch gibt und daß beide für den Menschen gleichermaßen unentbehrlich sind, bedarf keines besonderen Nachweises. Die moderne Gehirnforschung tut ein übriges, um die Tatsachen und Probleme eines strukturell und funktional gedoppelten Bewußtseins ins Licht zu rücken. Wenn auch hier das Erfordernis der Verbindung beider ‘Hälften’ betont wird, möchte ich hinsichtlich der sittlichen Erziehung noch einen Schritt weitergehen und behaupten, daß nur in ihrer Verbindung die Möglichkeit einer moralischen Qualität enthalten, wenn auch nicht schon gewährleistet ist. Die geforderte Verbindung muß deshalb nach beiden Seiten hin sowohl affirmativ als auch selbstkritisch sein.
Das Positive beider Konzeptionen so zu verbinden, daß sich ihre Mängel gegenseitig kompensieren, ist allerdings keine einfache Aufgabe, weil sie der praktischen Tendenz nach gegenläufig sind und im theoretisch bestimmten reinen Fall sich geradezu ausschließen. Eine theoretische Vereinigung dürfte aus diesem Grunde kaum möglich sein, wohl aber ihre praktische Verbindung. Auch theoretisch widersprüchlich Bleibendes läßt sich praktisch allemal verbinden, sobald ein Bewußtsein für den Unterschied beider Konzeptionen entwickelt ist.
Nun kann eine Verbindung heterogener Konzeptionen, selbst wenn sie wünschenswert ist, dem einzelnen Erzieher schlecht angetragen werden, solange die Kontroverse über sie in gesellschaftliche Antagonismen eingelagert ist und mit rivalisierenden politischen Parteiungen verbunden wird, die nur die eine Seite betonen und gegen die andere ins Feld führen. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß die Verbindung von heterogenen und miteinander im Streit liegenden Konzeptionen nicht auf abstrakt-begriffliche Weise geleistet werden kann und selber wiederum an konkrete Lebensformen zurückgebunden werden muß, die das Widersprüchliche nicht ausschließen, sondern beide Seiten leben können. Es muß deshalb in einem weiteren Schritt nach einer verbindenden Lebensform dritten Grades gesucht werden, die die geforderte Mehrseitigkeit als Medium sittlicher Erziehung nicht nur duldet, sondern die verlangten Integrationsleistungen auch zu erbringen vermag.
Das Gespräch als Ort und Lebensform sittlicher Erziehung
In diesem Sinne möchte ich als eine dritte, verbindende Konzeption das Gespräch vorschlagen als eine Lebensform, die zur Form sittlicher Erziehung in dem hier gemeinten doppelten Sinne werden kann. Das Gespräch, als Lebensform verstanden, trägt beiden genannten Konzeptionen in gleicher Weise Rechnung, es verbindet ihre beiderseitigen Vorzüge und mildert die mit ihrer einseitigen Ausprägung verbundenen Schwächen.
Bevor jedoch dieser Gedanke in der eingeschlagenen Richtung weiter ausgeführt werden kann, ist es nötig, noch einmal auf das Verhältnis von Mensch und Sprache zurückzukommen und in ihm das moralische Bewußtsein zu verankern. Es wurde bereits festgestellt, daß die präskriptive und imperativische Sprachform nicht bereits den moralischen Inhalt ihrer Weisung garantiert und als solche noch nichts zur sittlichen Bildung des Menschen beiträgt, weil sie ebenso den autoritären und unsittlichen Verhältnissen zugrunde liegt und in ihrer ausschließlichen Verwendung auf diese beschränkt wäre. Es ist vielmehr nötig, andere Formen des Miteinanderredens beizuziehen, die moralisch nicht neutral sind und deren Bedeutung sich nicht auf Handlungsanweisungen reduzieren läßt. Ihr Medium ist primär nicht das Tun, sondern das Denken, in dessen Horizont jenes erst seine menschliche Bedeutung erhält.
Eine moralische Reflexion kann nur gemeinsam und bezogen auf die eigene, leibliche und seelische Verfassung vollzogen werden. Das Gute muß in ihr am eigenen wie am fremden Tun und Ergehen aufgezeigt, benannt und ausgezeichnet werden, um überhaupt ein solches zu sein. Das Sprechen selber schafft auf diese Weise in der Verbindung der Menschen und Zeiten eine moralische Verbindlichkeit. Es ist die Bedingung der Möglichkeit, sich in den Ort des Anderen zu versetzen und von daher zu verstehen. Ist aber die menschliche Realität eine ausgesprochene, mitgeteilte und in der Mitteilung verstandene Realität, dann hat auch das Moralische seine eigentliche Wirklichkeit in der Sprache und nur durch sie auch im Tun. Der Mensch ist als ein moralisches Wesen selbst Sprache und Zeichen.
Die zentrale Form aber, in der die menschliche Gemeinschaft sich als Sprache erfüllt, ist das Gespräch. Es ist konstitutiv für die sittliche Wirklichkeit, weil nur in ihm ein freies Verhältnis von Menschen zustande kommen und sich unerachtet aller Brechungen durchhalten kann. Die Friktionen der „Wechselrede“ sind für die Gesprächsform konstitutiv. Seine Weise ist die Anregung und nicht die Nötigung. Den früheren Gedanken der freien Vermittlung des auf keine Weise auszuschließenden Widerspruchs wieder aufnehmend, kann man sagen: Das menschliche Gute erfüllt sich im Gespräch. Die Bedingungen seiner Möglichkeit sind identisch mit den Bedingungen der Ausbildung einer sittlichen Haltung. Was ein nie zu erzwingendes Gespräch zustande bringt und unterhält, fördert auch das sittliche Wesen des Menschen.
Die Bedingungen des Gesprächs sind aber nicht außerhalb von ihm schon vorhanden; es bildet vielmehr seine eigenen Voraussetzungen durch sich selbst erst aus und wirkt darin dem ständigen Verfall entgegen. Hier ist Gehlen recht zu geben: „Das Zeitalter der Vermassung ist das Zeitalter der kleinen Sondergruppierungen, der Vertrauensbeziehungen, für die man sich einsetzt und wirklich etwas tut, der Teams, die Gleichgesonnene kooptieren. alle diese kleinen Bindungen zusammen machen so etwas wie den Zement des Gesamtgebäudes der Gesellschaft aus. Was so laut den Vordergrund einnimmt: die großen Zweckorganisationen und die hineingeschütteten Einzelnen, das ist keineswegs die ganze Wahrheit.“ Auch wenn so über die verhandelten Inhalte noch gar nichts ausgesagt ist, meine ich, daß die gepflegte und durchgehaltene Gesprächsform selbst als solche schon eine sittliche Wirkung, ja die entscheidende sittliche Wirkung hat. Ohne die Gemeinschaft des Denkens im Gespräch gäbe es auch keine Gemeinsamkeit des Tuns und keine moralische Qualität der Handlung.
Ich verstehe das Gespräch hier nicht in einem unbestimmten Sinn als stellvertretend für alle möglichen Redeformen, sondern ganz direkt als die einzige menschliche Lebensform, die die volle Freiheit aller Teilnehmer wahrt und zugleich die größte Verbindlichkeit zwischen ihnen schafft. Seine Freiheit ist auch für das moralische Sichverstehen konstitutiv. Dieses hat keine Instanz der Entscheidung außer sich selbst: Was man als Hörbereitschaft und Verständigungsmöglichkeit in das Gespräch einbringen kann, ist in ihm erst gewachsen.
Nun wäre es nicht schwer, in der Form des Gesprächs alle jene Züge nachzuweisen, auf die es mir in den bisherigen Erörterungen ankam: seine Wechselseitigkeit und Solidarität, den ständigen Rückgang auf allgemeine Lebensansichten ineins mit einer zunehmenden Konkretisierung und Erhellung deiner Situation, seine Kompromißbereitschaft und Verträglichkeit gegenüber bleibenden Differenzen und schließlich auf seine Kraft, Versteifungen wieder zu lösen und Verfremdungen abzubauen. Das Gespräch ist nicht nur zwischen Vertrauten, sondern auch und gerade zwischen Fremden möglich.
Lassen sich aber die Grenzen der Gesprächsbereitschaft nicht vorweg abstecken, so folgt schon aus der grundsätzlichen Möglichkeit des Gesprächs, daß ein sittlicher Konsens erreichbar sein muß und der Relativismus nicht das letzte Wort hat. Die im Gespräch verwirklichte Gemeinschaft bedarf jedoch, um offen zu bleiben, einer doppelten Polarisation. In ihm verbindet sich einmal der kleine Kreis der Lebensgemeinschaften, die sich nur in beständigen und intensiven persönlichen Beziehungen erfüllen können. Zugleich aber hat das Gespräch die Tendenz, über den kleinen Kreis der Partikularitäten hinaus am allgemeinen Geschehen teilzunehmen und die engen Verhältnisse nach außen hin zu öffnen. Die sittliche Verpflichtung wird zwar geboren und faßt sich im persönlichen Bezug von Menschen, aber sie muß diesen notwendig überschreiten und Verantwortung für das Ganze übernehmen. In der nicht institutionalisierbaren Jeweiligkeit seines Zustandekommens bildet das Gespräch somit auch ein öffentliches Bewußtsein aus.
Auch diese weite Beziehung ist notwendig sprachlicher Natur und kann vom Handeln, das einen engeren Radius hat, nur teilweise übernommen werden. Verbindet man auf diese Weise das Lokale und das Globale, so ergibt sich erst daraus das integre sittliche Bewußtsein, das eine Zirkulation der engsten Beziehungen mit der Teilnahme am größeren Geschehen verbindet. Der für das Moralische konstitutive Doppelkreislauf verlangt, dieses aus seinen einseitigen Festlegungen, sei es auf die Gefühlssphäre oder auf das Rationale, herauszubringen und beides füreinander zu öffnen. Wo man in der Übernahme öffentlicher Verantwortung auf emotionale Bereitschaften nicht mehr warten kann, muß die Erkenntnis sagen, was zu tun ist. Sie kann es aber nur, wenn sie auf jene Wurzelregion zurückbezogen bleibt, aus der menschliches Tun und Denken sich speist.
Grenzen der Gesprächsführung
Gleichwohl muß man auch die Grenzen der Gesprächsführung sehen in einer Gesellschaft und Erziehung, die trotz aller guten Vorsätze und Ideale ohne Druckmittel und Zwänge nicht auskommen zu können glaubt. Es nützt nichts, das Ideal einer offenen Beziehung und zwangsfreien Erziehung aufzustellen, solange man nicht gelernt hat, mit den nach wie vor bestehenden Zwängen und Nötigungen anders umzugehen. Innere und äußere Zwänge und Zwangslagen lassen sich nicht einfach aus der Welt schaffen. Ein Ende der Gewalt tritt nicht von selber ein. Wie aber soll das Dilemma des Umgangs mit Gewalt so gelöst werden, daß diese aufhört Gleiches mit Gleichem in endloser Kette zu vergelten? Was soll man z. B. mit verstörten Kindern tun, die, aus welchen Gründen auch immer, den Kontakt verweigern und für pädagogisches Handeln nicht mehr ansprechbar sind? Man muß nun lernen mit Widerständen umzugehen, die gar nicht mehr dem freien Willen unterliegen und Ausdruck eines inneren Gefängnisses sind. Der hier ausbrechenden Gewalt gegenüber ist auch das Gespräch oft hilflos und jeder Appell müßig. Ein alltägliches Beispiel ist die Ohnmacht des Erziehers, der mit einer durch Verweigerung, Angst und Aggression bestimmten Beziehungsdynamik nicht umgehen kann und das Kind nicht mehr erreicht.
Man kommt hier nicht umhin nach hilfreichen Formen von Gegen-Gewalt zu suchen, die die Kette der Gewalt sprengen und geeignet sind, aus den für beide Seiten ausweglos gewordenen Abwehrhaltungen herauszuführen. Bei autistischen Kindern bewährt sich in diesem Sinne die paradoxe bzw. übergegensätzliche Methode des „Festhaltens“ (forced holding), mit der man dem wegfliehenden und den Kontakt zu anderen verweigernden wie zu sich selber verlierenden Kind einen Kontakt im Widerstand anbietet und so den inneren Zwang durch äußeren Zwang erlöst. Doch erst die schmerzliche Erfahrung des Scheiterns der Liebe kann zu der neuen Einsicht führen, daß man die Alternative einer zwingenden oder freigebenden Erziehung hinter sich lassen muß, um der Schwierigkeiten der Lage gerecht werden zu können. In letzter Instanz ist Gewalt nur durch eine Verbindung von Gewalt und Liebe zu erlösen.
Im Kontext einer solchen selber „paradox“ werdenden und darin widersprüchlich erscheinenden Liebe sind alle Handlungen mehrsinnig und nehmen als solche eine übergegensätzliche Form an. Es gilt hier nicht mehr die logische Gleichung: daß Zwang zu Zwang führt und Freigabe zu Freiheit, und daß in pädagogischer Konsequenz beides säuberlich getrennt gehalten werden muß. Dies macht das Ärgernis paradoxer Handlungsanweisungen aus, es begründet aber auch die Möglichkeit des Umschlags in eine neue Qualität. Jeder in die Beziehung eingebrachte Wirkungsfaktor kann hier eine positive und/oder negative Wertigkeit annehmen und wird diese wechseln gemäß dem Nenner, der den Gesamtvorgang jeweils bestimmt. Der Gesamtvorgang aber kann umgestimmt werden, wenn die heterogenen Qualitäten der Flucht und der Nähe, des Widerstandes und des Kontakts, der Bindung und Freiheit, Angst und Liebe sich innerlich berühren und in paradoxer Ungleichung ineinander transformieren. Es sind dieselben Ängste, Zwänge und Fluchten, die den Fall hoffnungslos zu machen schienen und die nun an der befreienden Lösung mitarbeiten, ja in Verbindung mit der Liebe den Hauptanteil an ihr haben.
Die Konsequenz des Gesagten ist, daß nur der, der beides: seine Gewaltphantasien und seine Freiheitsideale, hinter sich lassen kann, in schwierigen Lagen noch wirksame Hilfe zu leisten vermag. Das Fazit aus der Arbeit mit schwererziehbaren borderline-Kindern lautet: „Liebe allein genügt nicht.“ (Bruno Bettelheim ) Unklarheiten und Mißverständnisse sind dabei nicht auszuschließen, weil nun mit jeder Handlungsweise Verschiedenes, ja Gegensätzliches gemeint sein kann. Um so mehr bedarf es deshalb einer gesteigerten Achtsamkeit, Sensibilität und Vertrauensbereitschaft. Ohne eine solche geht es nicht, wenn alles darauf ankommt, zu spüren und spüren zu lassen, was ist und getan wird. Das äußerlich verwechselbar Erscheinende ist in Wirklichkeit nicht verwechselbar, denn es ist immer die Erfahrung einer Qualität, von der letztlich alles abhängt. Einziges Kriterium ist der Verlauf des Prozesses selber, der den guten Sinn einer Sache von ihrem möglichen Mißbrauch unterscheidet.
Verallgemeinernd kann gesagt werden, daß alles und jedes, was in der Erziehung getan wird, einen verderblichen und einen guten Sinn annehmen kann, je nach dem Kontext und der Art und Weise des Umgangs damit. Nicht das Was im Sinne äußerer Etikettierung, sondern das Wie des Umgangs mit einer Sache entscheidet über deren Qualität. Dies verlangt Vorurteilsfreiheit im Umgang mit Möglichkeiten, die nicht einem wertenden Alternativschema geopfert werden dürfen. Viele Möglichkeiten tun sich erst in einem „Jenseits des Wertens“ auf, auch und gerade viele moralisch gebotenen Möglichkeiten. Insofern darf auch die Ethik vor der Paradoxie nicht Halt machen. Vorurteilsfrei im wissenden Sinne kann nur der sein, der sein Geschäft nicht mehr an Wertungsalternativen bindet und das wirkliche Entweder-Oder an einer anderen Stelle sucht. So kann auch die Gewalt eine Äußerungsform sein, die je nach dem ihr zugrunde liegenden Motiv in die Hölle führt oder den Weg aus ihr heraus zeigt.