Mythos Ophelia
Zur Literatur- und Bild-Geschichte einer Weiblichkeitsimagination zwischen Romantik und Gegenwart
Frauke Bayer
Mythen stellen aufgrund ihres narrativen Aspekts eines der ältesten Kulturgüter der Menschheit dar. Aus strukturalistischer Perspektive (Roland Barthes) ist unter Mythos aber auch ein zeitgenössisches kulturelles Phänomen zu verstehen. Abstrahierend von der Oralität des antiken Mythos tragen so alle Medien literarischer, visueller und akustischer Ausdrucksformen zur Tradierung von Elementen des kulturellen Gedächtnisses bei. In diesem Sinne wird auch die Frauengestalt Ophelia aus William Shakespeares Rachetragödie „Hamlet“ über die Jahrhunderte hinweg als Erinnerungsfigur der westeuropäischen Kultur tradiert. Der Ophelia-Mythos, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst im Viktorianismus, dann im französischen Symbolismus, deutschen Frühexpressionismus und schließlich als Phänomen von gesamteuropäischer und außereuropäischer Relevanz eine intensive Rezeption erfuhr, wird somit zu einem wesentlichen Element der Kulturgeschichte. Diese kulturwissenschaftliche Studie mit Gender-Studies-Schwerpunkt verfolgt erstmals in interdisziplinärer Ausrichtung die Rezeption der Frauenfigur Ophelia von der Romantik bis zu aktuellen feministischen Entwürfen. Dabei wird die intermediale Instrumentalisierung Ophelias als Projektionsfläche für Weiblichkeitskonstrukte und Dichtungsentwürfe an Beispielen aus der Literatur, bildenden Kunst, Soziokultur und Neuropathologie eingehend analysiert.