Notre Dame von Chartres

Wenn heute bedeutende Bauten manchmal als „Kathedralen der Neuzeit“ bezeichnet werden, dann räumt dieser – ansonsten in mancher Hinsicht unpassende – Vergleich immerhin ein, daß die dem Geiste des angeblich „finsteren“ Mittelalters entsprungenen großen Kirchenbauwerke zu den größten Kulturleistungen der Menschheitsgeschichte gehören. Der Entstehung dieser gewaltigen Werke aus einer Bewußtseinslage heraus, die sich von der unseren wesentlich unterscheidet, wird in diesem Buch ausführlich nachgegangen.
Die gotische Baukunst mit ihren meisterhaften Kathedralen ist nicht von dem Nützlichkeits-standpunkt her zu begreifen, der fast allen Bauten unserer Zeit zugrundeliegt; ihre Werke waren nicht allein gottesdienstliche Versammlungsräume, sie waren vielmehr in erster Linie Symbol und Abbild der Himmelsstadt, sie repräsentierten die prophetischen Visionen der Bibel und eine übernatürliche Welt, welche für den mittelalterlichen Menschen die eigentliche Realität war. Als Spiegel der kosmischen Ordnung war die ihr zugrundeliegende Geometrie Leitbild dieser Baukunst und in Tausenden von Skulpturen und Glasbildern wurde dem Gläubigen die spirituelle Gegenwart der göttlichen Mächte, sowie der Heiligen der Kirche nahegebracht.
Die Entwicklung der gotischen Kathedrale wird ausführlich dargestellt. Als erster besonderer Höhepunkt dieser Entwicklung, zugleich als ihr wohl am besten erhaltenes Zeugnis und als Trägerin einer eigenen Tradition steht die Kathedrale Notre-Dame von Chartres im Mittelpunkt; an ihr werden die oben genannten Gesichtspunkte im Hinblick auf die philosophisch-theologischen Grundlagen, auf die Architektur und auf die Ikonographie eingehend erläutert. Auf Besonderheiten wurde Gewicht gelegt und einige verbreitete Hypothesen zur Ikonographie und zur Baugeschichte werden diskutiert.