Philoktetes – Wandlungen der Sophokles-Tragödie im 20. Jahrhundert
12 Dramen von André Gide bis Seamus Heaney
Eckard Lefèvre
Sophokles’ 409 v.Chr. in Athen aufgeführtem Philoktetes liegt der tragische Konflikt zwischen dem Anspruch der Gesellschaft und dem Anspruch des Individuums zugrunde. Dieser Stoff ist in der Neuzeit öfter behandelt worden, ohne daß es zu bemerkenswerten Gestaltungen kam. 1899 stieß André Gide mit seinem genialen Philoctète das Tor weit in die Moderne auf, indem er die traditionelle Gestalt nicht aus der Perspektive der Gesellschaft, sondern aus der des Individuums betrachtete. Die Aussetzung des Helden auf einer unbewohnten Insel wurde nicht als Fluch, sondern als Segen verstanden: Philoctète begriff die Einsamkeit als Chance für die Selbstwerdung als Individuum – und Dichter. Diese revolutionäre Deutung regte die Autoren des 20. Jahrhunderts immer wieder zu neuen Gestaltungen an, indem sie nicht nur Politik und Konflikte ihrer Zeit, sondern auch ihre persönlichen Probleme zur Darstellung brachten: Rudolf Kassner (Philoktet, 1904), Karl von Levetzow (Der Bogen des Philoktet, 1909), Rudolf Pannwitz (Philoktetes, 1913), Bernt von Heiseler (Philoktet, 1947), Heiner Müller (Philoktet, 1965), James Baxter (The Sore-Footed Man, 1967), Tom Stoppard (Neutral Ground, 1968), Walter Jens (Der tödliche Schlag, 1974), Sydney Bernard Smith (Sherca, 1979), Oscar Mandel (The Summoning of Philoctetes, 1981), Seamus Heaney (The Cure at Troy, 1990). Ausblick: Jean-Pierre Siméon: Philoctète (2010).