Poeta philologus
Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert
Mark-Georg Dehrmann, Alexander Nebrig
Die Geschichte der Philologien kann nicht von der Geschichte der Literaturen getrennt werden: Dichtung bezieht sich immer auf Traditionen. Diese existieren aufgrund ihrer Konstitution, ihrer Bewahrung, ihrer Kritik, ihrer Interpretation – aufgrund der klassischen Tätigkeiten von Philologie bzw. Literaturwissenschaft. Der ist ein aufschlussreicher Sonderfall für diesen Befund, der aber auch darüber hinaus Geltung beanspruchen kann. Der Band widmet sich der Lage des Dichterphilologen im 19. Jahrhundert. Seine Situation ist ambivalent. Innerhalb von Kulturen und Gesellschaften, die ihre ästhetischen, didaktischen und politischen Ambitionen durch einen Rückgang auf die Geschichte legitimieren, gewinnt der eine herausragende Bedeutung: Er verfügt als Philologe über das Vergangene, um es als Dichter wirkungsmächtig in die Öffentlichkeit zu geben. Gleichzeitig aber ist seine Doppelrolle seit den ästhetisch-poetischen Entwicklungen vom späten 18. Jahrhundert an gefährdet: Droht nicht die Gelehrsamkeit die Fähigkeit zur Dichtung abzutöten? Der Dichterphilologe ist eine Schwellenfigur zur Moderne: Er versucht noch einmal, die Sehnsucht nach dem Vergangenen in gegenwärtiges Leben umzuwandeln, das sich multiplizierende historische Wissen in die Präsenz gegenwärtiger Dichtung zu bannen. Die Beiträge beschränken sich nicht auf eine Nationalphilologie. In exemplarischen Studien zu Dichterphilologen unterschiedlicher Länder und Literaturen wird deutlich, dass der ein europäisches Phänomen ist.