Poetik der Infektion
Zur Stilistik der Ansteckung bei Thomas Mann
Honold Alexander
Thomas Mann, ein Stilist von Graden, begibt sich ausgerechnet beim Thema Infektion wiederholt in erstaunlich experimentelle Schreibhaltungen. Dabei treten etwa medizinische Exzerpte, platonische Dialogszenen oder musikalische Ausdrucksformen als ›eingegliederte stilistische Fremdkörper‹ in die Funktion, kulturelle und somatische Ausnahmezustände innerhalb der Erzähltextur anzuzeigen.
Was es heißt, sich ›buchstäblich‹ »anstecken« zu lassen, suchte der Schriftsteller mit genuin sprachlich-literarischen Mitteln dadurch sichtbar und fühlbar zu machen, dass er, in musterhaft ausbalancierten Textfeld, das Eindringen heterogener Begriffe, Sprachformen und Stilimpulse zuließ. So greift Thomas Mann für die Schilderung von pathologischen Effekten auf textuelles Fremdmaterial wie Lexikonartikel, medizinischen Fachjargon, visionäre Traumsequenzen oder antike Hexameter zurück; auch der Schneetraum im ›Zauberberg‹ oder der Teufelspakt im ›Faustus‹ fungieren [fast wie Vakzine] als kalkuliert eingesetzte Irritationen. Hinter solchen Manövern des Tonwechsels und der stilistischen Verfremdung steht die produktionsästhetische Auffassung, dass von schweren Beeinträchtigungen der körperlichen oder geistigen Souveränität am plausibelsten auf eine Weise zu sprechen sei, die sich erzählrhetorisch auch selbst ›affiziert‹ zeigt, so dass noch bei der Lektüre vehemente Erschütterungen der literarischen Integrität mit- oder nachzuerleben sind.
Verstellung, Verfremdung, Verwandlung – mit diesen Form-Strategien kann Literatur dazu beitragen, infektiöse Vorgänge auch auf emotionaler Ebene verstehbar und nachvollziehbar zu präsentieren. Jene werden im vorliegenden Band an einer knappen Handvoll einschlägiger Großwerke Thomas Manns nachgezeichnet: ›Buddenbrooks‹, ›Der Tod in Venedig‹, ›Der Zauberberg‹ und ›Doktor Faustus‹.