Religiosität im späten Mittelalter
Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen
Berndt Hamm, Wolfgang Simon
Thema des Buches sind die wechselseitigen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Arten der frömmigkeitsnahen Theologie, der kirchlichen Seelsorge, der gelebten Religiosität, der frömmigkeitsbezogenen Bildwerke und kirchlicher Institutionen vom 14. bis frühen 16. Jahrhundert. Die spätmittelalterliche Religiosität wird als Kraftfeld polarer Tendenzen verstanden, die teils konkurrierend gegeneinander standen, teils nebeneinander herliefen, teils miteinander kombiniert wurden. Im Blick sind insbesondere die Spannungen zwischen eher extrovertierten und eher verinnerlichenden Frömmigkeitshaltungen, zwischen einer aktiven und einer eher kontemplativ-mystischen Religiosität, zwischen einer stark vergeltungs-, lohn- und straforientierten Frömmigkeitslogik und einer Religiosität des souveränen göttlichen Erbarmens, zwischen einer angst- und furchterregenden Seelsorge und einer Seelsorge, die entängstigen und trösten will, zwischen einer stark privatisierenden und individualisierenden Frömmigkeit und einer Frömmigkeit der stellvertretenden religiösen Solidargemeinschaft der Gläubigen, zwischen einer stark klerusbezogenen und sakramentsorientierten Haltung und einer Verselbständigung der Laienreligiosität, zwischen massiv kirchendevoten und scharf kirchenkritischen Einstellungen, zwischen einer Immediatisierung des Zugangs der Menschen zum Heil und einer Frömmigkeit der medialen Vermittlungstechniken von Gnade und Heil. Gezeigt wird, dass in der spätmittelalterlichen Theologie, Frömmigkeit und Kirchlichkeit meist mehr als nur zwei Typen eines Spannungsverhältnisses hervortreten. Das späte Mittelalter erweist sich so als die Phase einer erstaunlichen religiösen Vielfalt und kirchlichen Spannweite. Verglichen damit ist die Konfessionslandschaft des 16. Jahrhunderts von starken Kräften normierender Reduktion und Zentrierung bestimmt.