Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung.
Christoph Herrmann
Der Autor widmet sich zwei Kernfragestellungen im Schnittbereich von EG-Richtlinien und nationalem Recht: Der Einwirkung von Richtlinien auf die nationale Rechtsprechung, vor allem durch die Institute der unmittelbaren Wirkung und der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung sowie der Frage, welchen Umsetzungsbeitrag die nationale Judikative, insbesondere durch richtlinienkonformes Richterrecht zu leisten vermag.
Der Verfasser unterscheidet zwischen der Außerachtlassung richtlinienwidrigen nationalen Rechts (negative unmittelbare Wirkung) und der positiven Anwendung von Richtlinienvorschriften (positive unmittelbare Wirkung). Erstere ist nach der Rechtsprechung des EuGH auch in sog. »horizontalen« Rechtsverhältnissen zulässig. Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung verortet der Verfasser in Art. 249 Abs. 3 EGV. Ihr kommt als zwingender Rechtspflicht unmittelbare und allgemeine Geltung in den nationalen Rechtsordnungen zu, und sie hat am Vorrang des Gemeinschaftsrechts teil. Ihre Grenzen lassen sich jedoch nur aus den nationalen Rechtsordnungen heraus bestimmen.
Auch in kodifikationsgeprägten Rechtsordnungen wie der deutschen kommt Richterrecht eine wichtige Bedeutung zu. Einen Beitrag zur Umsetzung von Richtlinien kann dieses aber nur sehr begrenzt leisten. So ist eine Richtlinienumsetzung durch richtlinienkonforme Rechtsfortbildung wegen des Erfordernisses der Klarheit und Bestimmtheit ausgeschlossen. Hingegen ist aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive eine Umsetzung durch die richterrechtliche Konkretisierung von Generalklauseln möglich, soweit das Interesse an der Erhaltung dogmatischer Strukturen des nationalen Rechts überwiegt. Aus methodologischer wie verfassungsrechtlicher Perspektive erscheint eine solche Richtlinienumsetzung allerdings bedenklich, da die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung die Generalklausel ihrer sie zugleich verfassungsrechtlich legitimierenden Funktion als Flexibilitätsmittel entkleidet.