Robert Musils Achillesroman
Regina Schaunig
Robert Musil, einer der Vordenker des digitalen Zeitalters, seiner Hastags, Hyperlinks und Work-in-progress-Lösungen, wird mit der vorliegenden Studie, siebzig Jahre nach seinem Tod, als Copy-right-freier Schriftsteller willkommen geheißen. Eine neue Generation von Lesern und Leserinnen ist eingeladen, sich auf das Werk und den Nachlass des Dichters und Wissenschaftlers forschend einzulassen. Die vorliegende Studie versucht ein zentrales Schreibprojekt aus Musils Handschriften zu rekonstruieren, das als Vorstufe des Mann ohne Eigenschaften anzusehen ist und gleichzeitig konzeptionell weit darüber hinausgeht.
Der mehr als vierzigjährige Arbeitsprozess hinter dem offiziellen, nach wie vor nicht zu Ende edier-ten Roman spiegelt einen überaus wandelbaren, experimentierfreudigen Tagebuch-Schreiber, einen „Blogger“, wie man heute sagen würde. In der entscheidenden Phase kurz nach dem Ersten Weltkrieg war dieses Schreiben in zwei überdimensionale literarische Projekte eingebettet, deren Strukturen bis in die letzten Schaffensjahre sichtbar blieben. Innerhalb dieser Großprojekte durchläuft der Mann ohne Eigenschaften seit 1914 eine Metamorphose, die aus einer autobiographischen Liebes- und Eifersuchtsgeschichte eine politisch-gesellschaftliche Analyse und ein Lebens- und Ideenlaboratorium macht. In der Offenheit des schöpferisches Prozesses findet Musils Schreiben hier zu ersten Handlungsskizzen, Aufbauplänen und Romankapiteln. Der sogenannte „Achillesroman“ kreist um den Revolutionär, Aktivisten und Dadaisten Achilles (später Ulrich) und seinen ebenso konservativen wie resignierten Ich-Erzähler. Im dynamischen Dossier des Schreibens erproben beide Protagonisten verschiedene Lebensversuche und finden sich zuletzt im Utopia einer Experimentalgesellschaft wieder, wo man im Reigen fortgesetzter moralischer Wandlungen auf das irdische Scheitern zurückblickt.