Schicksal – Zufall – Willensfreiheit
Kontingenz im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg
Isabella Managò
„Immer wenn der Mensch anfängt, seine Zukunft zu planen, fällt im Hintergrund das Schicksal lachend vom Stuhl.“ Dieser Satz, der als Redensart in unseren täglichen Sprachgebrauch eingegangen ist und sich auf zahlreichen Postkarten findet, illustriert das Bewusstsein darüber, dass die Zukunft offen ist und sich nur begrenzt planen und beeinflussen lässt. Das Nachdenken über diese menschliche Grunderfahrung ist von einer bemerkenswerten kulturellen und historischen Konstanz. Von den Texten Homers und der griechischen und römischen Philosophie und Literatur, über die Kirchenväter und mittelalterlichen Dichter bis heute, wird in Texten und anderen Medien immer wieder reflektiert, welchen Einfluss Menschen auf ihre Zukunft haben und wie Schicksalsschläge oder Zufälle das Leben beeinflussen. Wie wir die Umstände bewerten, ob das Erlebte als Glück oder Unglück empfunden wird, hängt dabei stets von jeweiligen Perspektiven und Kontexten ab. In der Geschichte vom Trojanischen Krieg wird dem Schicksal traditionell eine wichtige Rolle beigemessen, aber auch die Figuren können das Geschehen durch ihre Entscheidungen aktiv beeinflussen. Der antike Mythos wirft damit die grundlegende Frage nach der Vereinbarkeit von Schicksalsfügung und menschlicher Handlungsmacht auf. Fest steht zwar immer, wie die Geschichte für die Trojaner endet: Mit dem Tod ihrer Krieger und der Zerstörung der Stadt. Die Faktoren, die dazu führen, sind jedoch vielfältig und werden besonders bei Konrad von Würzburg farbenfroh und detailliert beschrieben und erwecken dadurch in der Erzählung immer wieder den Eindruck, dass die Geschichte offen ist. Immer wieder kommt es vor, dass der Erzähler kommentiert, die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn hier nicht das Schicksal eingegriffen hätte oder dort eine Entscheidung anders ausgefallen wäreIndem auf diese Weise über mögliche Zukunftsoptionen spekuliert wird oder vermeintliche Alternativen der Handlung geboten werden, lotet der Erzähler immer wieder die Grenzbereiche des stofflichen Telos aus. Zwei Darstellungsweisen tragen dabei im Trojanerkrieg besonders zur Vermittlung von Offenheit und Zukunftsungewissheit bei. Zum einen werden immer wieder langwierige Prozesse der Entscheidungsfindung verschiedener Figuren beschrieben, zum anderen Situationen, in denen Zufälle oder eine göttliche Macht das Geschehen bestimmen. Die Rezipierenden werden dadurch – so eine zentrale These dieser Arbeit – mit Zukunftsoffenheit und mit dem Unvorhergesehenen, der Kontingenz, konfrontiert und die Spannung zwischen Erwartung und Erfahrung bleibt selbst in einer Geschichte, in der sowohl der Plot als auch die Handlungen der Figuren als bekannt vorauszusetzen sind, erhalten. Dadurch wird an Erzähltraditionen festgehalten, während zugleich Zukunftsungewissheit bzw. Kontingenz evoziert wird. Providenz erscheint also immer wieder im Lichte der Kontingenz. Einen wichtigen kulturgeschichtlichen Kontext bildet die mittelalterliche Vorstellung, dass alle Menschen einen freien Willen haben, während gleichzeitig unbeeinflussbare Faktoren wie der göttliche Wille und der Zufall (häufig im Zusammenhang mit der Minne) das Geschehen lenken können. Das Erzählen von Kontingenz dient dabei sowohl für die Figuren als auch für die Rezipierenden zur Reflexion über verschiedene Möglichkeiten des Zukünftigen. Obgleich davon auszugehen ist, dass die Rezipierenden wissen, was am Ende eintreten wird, liefern die Passagen, die eine offene Zukunft postulieren, die notwendige Folie, vor der die Bedeutung des ‚wirklichen‘/historischen Geschehens reflektiert und erkannt werden kann. Zugleich ermöglichen sie den Rezipierenden, sich ihres eigenen Standpunkts in der Geschichte bewusst zu werden. Dabei kann je nach Standort der Betrachtenden ein Ereignis stets als kontingent oder notwendig erscheinen: Für die Figuren der Erzählung ist es kontingent, für die Rezipierenden (und teilweise auch den Erzähler) erscheint es notwendig. Ebenso verhält es sich mit der Einschätzung einer Situation. Während die Figuren beispielsweise annehmen, dass sie Glück haben, beurteilt der Erzähler, dass es sich eigentlich um Unglück handelt oder umgekehrt. Nicht zuletzt dieser Perspektivenreichtum, den der ‚Trojanerkrieg‘ zahlreich entfaltet und den das vorliegende Buch untersucht, zeugt von hohem literarischem Reflexionsniveau und ermöglicht den Rezipierenden, den Zusammenhang zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit und die Erfahrungshaftigkeit von Geschichte zu überdenken.