Tanz & Archiv
Biografik Heft 2
Nicole Haitzinger, Claudia Jeschke
Tanz tradiert und re-formiert sich über Körper als Archive und über Archive als Orte; letztere handeln immer auch von Körpern und bedürfen der sammelnden wie rezipierenden Körper. In diesem Sinn sind Archive zeitgenössisch. Ihre Bedeutung gewinnen sie unter anderem aus der Beobachtung, dass in der Tanzgeschichte immer dann vermehrt mit dem Topos ‚Archiv‘ umgegangen wird, wenn sich Umbrüche des Tanzes und Wissens andeuten oder manifestieren. Mit Tanz als wissenschaftlicher Disziplin verknüpfen sich neue Denkfiguren mit dem Ort und, was wichtiger ist, mit den hier dokumentierten wie verborgenen Konzepten. Auch die in den Derra de Moroda Dance Archives präsenten Materialien
machen historisch relevante Strategien und Operationen des Tanzens und des Wissen-Schaffens über Tanz bewusst; deren Re-Konstruktionen erfordern ständige wissenschaftliche wie künstlerische Akte des (Neu)Schreibens und (Neu)Tanzens. Das heißt: Die Sammlung selbst wie auch der Vorgang des Sammelns spiegeln historisch exemplarische wie persönliche Denk- und Tanzfiguren des 20. Jahrhunderts und ihren jeweiligen Blick auf Geschichte.
Sie bilden die Materialbasis sowie die Vision einer Forschung, die Tanzen und Wissen aus ihrer Geschichte(n) schreibenden und kulturellen Komplexität immer wieder neu organisiert. Das Magazin Tanz & Archiv: ForschungsReisen versucht, die Forschungsschwerpunkte von Derra de Moroda und deren Rezeption, Reflexion und Verortung in der zeitgenössischen Tanzwissenschaft als Re-Enactments und in Historiografien zu erarbeiten und zu diskutieren. Als Perspektive dienen Fragen nach Gedächtnis und Erinnern, die sich mit temporären und lokalen Transfers befassen: mit dem zeitlichen Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis – genauer: mit den ritualisierten Bedingungen, die sich durch die Übertragungen von der Person Friderica Derra de Moroda auf Zeitzeugen und die Zeugen der Zeitzeugen ergeben, mit dem ‚topografischen‘ Übergang zwischen bewohntem und untbewohntem Gedächtnis – genauer: mit den Verknüpfungen, denen die Tanzwissenschaft durch die von Derra de Moroda als Aktive und Rezipierende vorgebene Matrix des in actu bzw. in situ folgt. Diese Übergänge präsentieren sich beide als strukturelle Transformationen von der persönlichen Erfahrung zunächst zum Sammeln und weiter zum institutionalisierten Archivieren; sie zeigen ein dynamisches Verhältnis zwischen Person, Material, Ort, Vergangenheit, Jetztzeit und Zukunft. Da sich die Derra de Moroda Dance Archives momentan einem durch die anstehende Digitalisierung wesentlichen medialen Paradigmenwechsel der Vermittlung stellen, werden die Übergänge trotz der vielfältigen Überschneidungen und Verknüpfungen von Zeiten, Orten, Strukturen im vorliegenden Magazinprojekt thematisch isoliert und (wo möglich) chronologisch verhandelt: als Bestandsaufnahme und gleichermaßen als Zukunftskonzept. Zeitgenössische Außenblicke auf das Archiv (von Christina Thurner) am Anfang und die Zeitzeugenschaft von Derra de Moroda (von Gunhild Oberzaucher-Schüller und Laure Guilbert) am Ende rahmen das Diskussionsfeld ‚Biografie‘ – ein Diskussionsfeld, das sich mit Fragen der Autobiografie in aktueller Performance- Kunst, wiederum in einem Außenblick, genauso auseinandersetzt (Nicole Haitzinger, Lisa Hinterreithner, Helmut Ploebst) wie es im Mittelteil durch Insider-Blicke beleuchtet wird. Karin Fenböck führt ein Gespräch über die Bedeutung Derra de Morodas als Sammlerin, Forscherin und Archivarin mit deren direkter Nachfolgerin Sibylle Dahms, die auch die Briefe über die Zusammenarbeit von Gerhard Croll, dem ehemaligen Ordinarius für Musikwissenschaft, und Derra de Moroda kommentiert. Heutige Studierende verfolgen Aspekte der professionellen Biografie Derras in kleinen Projekten, in denen sich Sichtweisen einer heutigen Zeugengeneration vor Ort zur Forschung von Derra und zu Derra spiegeln, bevor Sibylle Dahms die Entstehung des Tanzarchivs anhand wesentlicher Erwerbungen charakterisiert.