Tradition im Pluralismus
Alasdair MacIntyre und Karl Barth als Inspiration für christliches Selbstverständnis in der pluralen Gesellschaft
Antje Fetzer
Wie ist es möglich, eine Identität zu entwickeln, die aus der sinnstiftenden Beziehung zu einer konkreten Tradition lebt, ohne bei dem Versuch, diese Beziehung zu bewahren, in fundamentalistische Selbstabschließung zu verfallen? Dieser Frage widmet sich die vorliegende Studie, indem sie Alasdair MacIntyres Traditionskonzept als Antwort auf die Orientierungsdefizite der Gegenwartsgesellschaft auslegt. Der amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre, geht davon aus, dass moderne Gesellschaften nur über die in ihnen gelebten Traditionen Identität vermitteln können. »Tradition« definiert er dabei als Streitgespräch um die richtige Interpretation der Traditionsinhalte. Das Zusammenleben in pluralen Gesellschaften versteht MacIntyre damit als permanentes Aufeinandertreffen unterschiedlicher, traditionsgeprägter Identitäten, die darum ringen, einander vom Wahrheitsgehalt der je eigenen Weltsicht zu überzeugen. Nicht blinder Konflikt ist die Konsequenz, sondern Erwerb von kultureller Sprachkompetenz: Wirkliche Begegnung ereignet sich, wenn eine Tradition ihr jeweiliges Gegenüber aus dessen genuiner Perspektive verstehen lernt. Auf diese Weise macht MacIntyre kommunikative Kompetenz zum orientierenden Faktor seines Modells. Im Gespräch mit der Theologie Karl Barths entwickelt die Studie dieses Modell in protestantischer Perspektive weiter. Barth wird als derjenige Theologe des 20. Jahrhunderts rezipiert, der christliche Identität am konsequentesten partikular gedacht hat. Mehr noch als für Barth steht dabei heute die Selbstgewissheit christlicher Tradition auf dem Prüfstand. Die Studie entwickelt ein Modell christlicher Orientierung im Pluralismus, das auf dem Zusammenspiel von kultureller Kompetenz und Vertrauen in die Tragfähigkeit der eigenen religiösen Identität aufbaut.