Umkehr der Sinneshierarchie
Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der Frühen Neuzeit
Ulrike Zeuch
Leiblichkeit spielt in der theoretischen Begründung postmoderner Ästhetik eine zentrale Rolle. Gesucht wird ein Wahrnehmungssinn, der die durch Rationalität als verloren beklagte unmittelbare und vorbewußte Selbstgewißheit restituiert. Bei der historischen Bestimmung der eigenen Position bezieht man sich u.a. auf Herders Konzeption des Tastsinns. Herder aber nennt einzelne Tastqualitäten als Gegenstände des Tastsinns und nimmt begriffliche Unterscheidungen zwischen sensus communis, Körper, Tastsinn und Gefühl vor, deren sachliche Unterschiede allerdings schwer zu bestimmen sind. Herders Aufwertung des Tastsinns ist demnach nicht primär durch die Suche nach einem Leibgewißheit garantierenden Sinn motiviert. Die Ursachen für diese Aufwertung liegen vielmehr in der frühen Neuzeit; ihrem Nachweis– ein Desiderat in der Forschung– gilt die Untersuchung. Die Suche nach Konstantem an bzw. in der Materie selbst und die Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Frage nach der Richtigkeit sinnlicher Wahrnehmung zur subjektiven Gewißheit führen zur fortschreitenden Abwertung der in der Scholastik als >primär< bezeichneten Qualitäten zugunsten der >sekundären<, zum Verlust an Wissen um die spezifische Erkenntnisleistung der Sinne und deren jeweiliges Erkenntnisobjekt, zur Umkehr der Sinneshierarchie und zur Einebnung des Unterschieds zwischen der Seele selbst und ihren einzelnen Vermögen. Sie sind im wahrnehmungstheoretischen Diskurs seit der frühen Neuzeit ablesbar. Sie sind von zentraler Bedeutung auch für die Ästhetik und die Hermeneutik, wie exemplarisch an der Diskussion um die Bestimmung der menschlichen Schönheit seit dem 16. Jahrhundert und in der Literatur um 1800 dargelegt wird.