Ungeschriebene Hauptversammlungskompetenzen in börsennotierten und nicht börsennotierten Aktiengesellschaften
Marco Staake
Holzmüller, Gelatine, Macrotron – dem mit dem Aktienrecht befassten Juristen sind diese Namen gewiss wohlbekannt. Sie stehen für Entscheidungen des II. Zivilsenats des BGH, in denen dieser die Existenz ungeschriebener, also nicht im Gesetz selbst vorgesehener Hauptversammlungskompetenzen anerkannt und deren Anwendungsbereich abgesteckt hat. Es handelt sich dabei um eine Problematik, die im zurückliegenden Vierteljahrhundert wie kaum eine andere im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum dokumentiert und diskutiert worden ist.
Daher muss auch die hier vorzulegende Untersuchung sich die Frage des skeptischen Lesers gefallen lassen, ob es einer nochmaligen Befassung mit der Thematik überhaupt bedurft hat. Die Skepsis wäre durchaus berechtigt, wenn es sich dabei lediglich um die »rechtswissenschaftliche Verwaltung« der von der Rechtsprechung vorgegebenen Grundsätze handeln würde. Diese Arbeit wurde in der Vergangenheit von den zahlreichen Kommentatoren der Entscheidungen (und des Aktienrechts im Allgemeinen) bereits geleistet. Zwar wurden dabei nicht alle Divergenzen im Meinungsbild beseitigt, doch ist dies dem Fehlen verbindlicher gesetzlicher Vorgaben und der bewusst abstrakt-grundsätzlichen Formulierung des BGH geschuldet. Eine ausschließlich auf die Konkretisierung ungeschriebener Hauptversammlungskompetenzen gerichtete Untersuchung wäre daher kaum mehr als eine weitere Stimme im ohnehin schon vielstimmigen Chor der Kommentatoren. Ob damit viel gewonnen wäre, darf bezweifelt werden.
Indes ist das Ziel dieser Untersuchung ein anderes: Zwar geht es auch um die Ermittlung des Status quo der Diskussion um ungeschriebene Hauptversammlungskompetenzen, doch soll das dabei gefundene Ergebnis seinerseits kritisch hinterfragt werden. Es geht – mit anderen Worten – um die Frage, ob die gewohnheitsrechtliche Verfestigung, die die BGH-Rechtsprechung mittlerweile erfahren hat, gleichsam den Endpunkt der kompetenzrechtlichen Entwicklung markiert oder ob nicht im Gegenteil gewichtige Argumente für eine »Rückentwicklung « sprechen – jedenfalls bei einem Teil der Aktiengesellschaften. Die dabei anzustellenden Erwägungen beschränken sich nicht auf die aktienrechtliche Kompetenzordnung, sondern betreffen unter anderem Stellung und Leitbild des Aktionärs in der Aktiengesellschaft und das Verhältnis des Aktienrechts zu angrenzenden Rechtsgebieten, etwa dem längst erstarkten Kapitalmarktrecht. Die vorgelegte Untersuchung kann (und soll) daher sowohl als Beitrag zur Diskussion um die angemessene Kompetenzverteilung in der Aktiengesellschaft als auch als Plädoyer für eine grundsätzliche Neuorientierung der aktienrechtlichen Dogmatik gelesen werden – als Beitrag zur Entwicklung eines Börsengesellschaftsrechts.