unterwegs
Holz- und Linolschnitte
Annie Bardon, Martin Noël
Fragilität in Stabilität bändigen
Zu den Holz- und Linolschnitten von Martin Noël
Aus der Beobachtung seiner Umgebung subtrahiert Noël die Form von den Dingen: Seinen in Photographien und Skizzen festgehaltenen »Fundsachen« entnimmt er die Bedeutung und präsentiert diese als Fragmente aus der Wirklichkeit, um so die dem Abstrakten verwandte Einfachheit der Formen, Details und Ausschnitte der Welt zu zeigen. Nichts wird hinzugefügt, die spezifische Wahrnehmung eliminiert das Inhaltliche zugunsten des Formalen.
Die zwischen 1990 und 1995 entstandenen Holzschnitte, die auf diese gezielt selektierten optisch Erfahrungen zurückgehen, zeichnen sich durch eine zeichnerisch lineare Formentwicklung aus, die sich ebenso zur Gestalt verdichtet wie sie diese in Frage stellt. In diesen Blättern sind bestimmte Charakteristika des menschlichen Kopfes noch andeutungsweise auszumachen. An ihnen ist die Lust des Künstlers an dem eigenen Vorgehen zu spüren, Lust am Zufall und seiner Steuerung, an den bedeutungsfreien Nuancen, die sich durch das Überdrucken mit einer anderen Farbe auf dem schwarzen Hintergrund bilden, aber auch die Lust an der Behauptung annähernd identifizierbarer Momente der konkreten Welt.
Mit der Wahl des Materials baut er einen Widerstand ein, der vor allzu großer zeichnerischer Leichtigkeit schützt. Die Bilder besitzen eine außergewöhnliche Energie und atmen die lebhafte Spontaneität der Gestik des Schneidens, der langgezogenen Messerstiche und -striche, der schiebenden und drängenden Bewegungen, um die Form ins Holz und ans Licht zu bringen. Zusammen mit dem Stakkato von ungleich dicken Linien und fahrigen Strichen ergeben sich Wirkungen, die den offenen Formulierungen von Pinselzeichnungen ähnlich sind. Ihre »hölzerne« Herkunft erkennt man in den schwarzweißen Drucken noch am ehesten.
Jeder seiner Drucke stellt sich als das sichtbare Ergebnis eines Prozesses dar. Der Betrachter gewinnt den Eindruck, nicht einem Tatbestand, sondern einem Prozeß gegenüberzustehen. Vielleicht hat überhaupt das Prozeßhafte in Noëls Arbeiten an Bedeutung gewonnen. Gleichgewichte sind nun manchmal bedrohlich gestört, oder Stabiles wird durch einen betont instabilen Faktor in Frage gestellt. Früher Erlebtes, Erarbeitetes wird wiederholt, neu geordnet. Doch so sehr die Bilder Martin Noëls auch Resultate einer Auseinandersetzung mit dem Medium Holzschnitt sein mögen, sie sind doch vor allem eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Realität sie sind allerdings ein Versuch, diese Realität allein mit den dem Medium zugänglichen Möglichkeiten erfahrbar zu machen. Stets ist das ein Balanceakt, eine Linie oder eine Fläche zwischen Erkennen und Vergessen, zwischen Form und Inhalt. Noëls Holzschnitte sind vielleicht in diesem Sinne wie Schattenboxen: Der Künstler tanzt im Raum zwischen der Form und ihrem Schatten. Solcher Schatten wird intensiviert in der südlichen Atmosphäre, wo das grelle Sonnenlicht nicht nur den Kontrast zwischen Hell und Dunkel verstärkt, sondern gleichzeitig Formen wirft in ein Vokabular von Silhouetten.
In der Serie, die auf der Kanarischen Insel La Gomera entstanden ist, verwendet der Künstler Formen, die eine assoziative Beziehung zur Pflanzenwelt deutlicher zuläßt. Die Energien, die bisher in dynamisierten Bewegungsabläufen kanalisiert waren, scheinen sich als gesammelt Kraft in großflächigen Formen zu speichern. Schwarze und farbige Flächen stehen sich einander gegenüber. Positiv und Negativ befinden sich im Einklang. Die Fülle hat meist das gleiche Gewicht wie die Leere, ihr Verhältnis ist dialogisch geworden. Die empfundene Formverwandtschaft in den Blättern dieser Serie und die unwillkürliche Erinnerung an Scherenschnitte werden immer wieder durch leichte Verschiebung oder Winkelveränderung gestört. In Martin Noëls Holz- und Linolschnitten zeigt sich ein Verfahren, die Fragilität des Erlebten, des Gesehenen in die Präsenz des Materials hinüberzuretten, zu bewahren. Es geht um Einschreibungen, Eingrabungen in das Material,um die Vergewisserung des vom Verschwinden Bedrohten. Martin Noëls Arbeiten können als Momente einer Geschichte bezeichnet werden: Jene Momente, in denen sinnhaftes Erfahren in künstlerisches Handeln umschlägt, in denen Eindrücke, Empfindungen für einen Augenblick als Spur in der Bildfläche sichtbar werden, in denen das Geschehen des persönlichen Erlebens überhaupt erst einen materiellen Körper gewinnt. Dieser Zusammenhang, der für das Kunstwerk allgemein zutrifft, ist in den Arbeiten Noëls geradezu thematisiert.
Annie Bardon