Versuche zu überleben
Die Geschichte einer jüdischen Familie unter NS-Herrschaft in Lemberg und Galizien
Klara Strompf, Lili Thau, Erhard Roy Wiehn
Aus dem Vorwort der Autorin
Es fiel mir nicht leicht, dieses Buch zu schreiben. Tief vergrabene Schmerzen wieder ans Tageslicht bringen zu müssen, gehörte dazu. Aber es war mir ganz klar, dass ich mich dieser Arbeit unterwerfen musste. Das schuldete ich allen, die umgekommen waren, aber auch meinen Kindern und Kindeskindern und nicht zuletzt der Geschichte.
Auch nach so vielen Jahren kann ich Tante Fruma, die ältere Schwester meiner Mutter, immer noch vor mir sehen, eine hübsche Frau mit zwei Kindern: Da ist Lusio, mein Cousin, ein Jahr älter als ich, dünn, groß, kurzsichtig und sehr intelligent. Dann sehe ich seine kleine Schwester Betty, ein süßes zweijähriges Mädchen mit honigfarbenem lockigem Haar und blauen Augen. Ich sehe auch Tante Donia vor mir, die so gut singen konnte, und ihre zwei Kinder: Nusia, fünf Jahre alt, ein kluges und schönes Kind, sowie ihr Brüderchen Baby Beno. Alle sehe ich klar und deutlich vor mir.
Unser Großvater Jakob Haber aus Horodenka, der sein ganzes Leben dem Zionismus gewidmet hatte, war sehr stolz auf seine Familie und auf alle seine Enkelkinder. Großvater plante, in seinen alten Tagen nach Palästina auszuwandern, er wollte im Heiligen Land begraben sein, und er wollte vor allem eine bessere Zukunft für seine Enkelkinder.
Nach dem Sechstagekrieg im Jahre 1967 stand ich das allererste Mal in Ehrfurcht vor der Klagemauer in Jerusalem. Ich schaute an den mächtigen, uralten Steinen empor, sah Wildpflanzen zwischen den Mauerritzen wachsen; es waren die Steine, die ich auf einem Bild bei meinem Großvater gesehen hatte, das er mir in Polen seinerzeit immer wieder zeigte.
Tränen liefen über meine Wangen, als ich mich dort an alle Familienangehörigen erinnerte, die dem Holocaust zum Opfer gefallen waren und die die Geburt des Staates Israel nicht erleben durften. Ich bin die Einzige meiner ganzen Familie, die überlebte. Ich bin die Einzige, die im Namen meiner Familie sprechen und berichten kann, was damals geschah. Und das versuche ich hier.