Vinzenz von Paul (1581–1660) und die Praxis der Sklaverei im Mittelmeerraum
Daniel Steinke
Wie passen das christliche Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ und die gewaltsame Versklavung und Ausbeutung von Menschen zusammen? Dieser Frage geht die Teilbiographie über Vinzenz von Paul (1581–1660) mit Blick auf die Praxis der Sklaverei im Mittelmeerraum nach. Der von der katholischen Kirche als Patron aller karitativen Werke verehrte Ordensgründer kannte aus eigener Anschauung die von Gewalt und Entbehrung geprägten Lebenswelten der Gefangenen: in Marseille und Toulon sorgte er sich als königlicher Galeerenseelsorger um Sträflinge und muslimische Sklaven und betreute in Tunis und Algier christliche Sklaven. Die Studie zeigt erstmalig, welche karitativen Antworten Vinzenz von Paul im Kontext seiner Seelsorge auf die Not der Gefangenen in Frankreich und Nordafrika gab und wie er Galeerenstrafe, Zwangsarbeit und Sklaverei spirituell deutete. Vinzenz von Pauls theologische Überzeugungen und sein pastorales Handeln lassen den Zusammenhang von Religion und Gewalt in einem neuen Licht erscheinen und stellen die klassische Humanisierungsthese, wonach das Christentum sukzessive auf die Abschaffung von Sklaverei hingewirkt habe, grundlegend in Frage.
Daniel Steinke leitet das Ideenmanagement am Universitätsklinikum Münster und befasst sich als Personalentwickler insbesondere mit den Themen Führungskultur und Unternehmensentwicklung. Der Autor und Mitbegründer des Wissenschaftsforums Ideenmanagement ist seit 2005 an verschiedenen Hochschulen in Forschung und Lehre tätig (WWU Münster, Exzellenzcluster „Religion und Politik“, Universität Paderborn) und verantwortete die Umstrukturierung und Neuausrichtung einer staatlich anerkannten Bildungseinrichtung. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die mediterrane Sklaverei, Religion und Gewalt, vinzentinische Ordensgeschichte, Personalentwicklung, Ideen- und Innovationsmanagement.****************How does the Christian commandment to ‘love thy neighbour as thyself’ fit together with the violent enslavement and exploitation of human beings? This partial biography of Vincent de Paul (1581-1660) examines this question with a view to the practice of slavery in the Mediterranean region. The founder of charitable religious orders, honoured by the Catholic Church as the patron of all works of charity, has first-hand knowledge of the violence and deprivation that characterised the lives of prisoners: as a royal chaplain on the galleys in Marseilles and Toulon he cared for prisoners and Muslim slaves, and in Tunis and Algiers he ministered to Christian slaves. This study describes for the first time the charitable answers that Vincent de Paul offered to the needs of prisoners in France and North Africa in the context of his ministry, and how he interpreted galley slavery, forced labour and slavery spiritually. Vincent de Paul’s theological convictions and his pastoral activity shed new light on the connection between religion and violence and call into question the classical theory of humanisation according to which Christianity worked gradually towards the abolition of slavery.