Von Tätern und Opfern
Rechtsmentalität in chinesischen Kriminalerzählungen zwischen 1600 und 1900
Carsten Storm
Kriminalgeschichten bieten dem Leser nicht nur eine spannende Lektüre, sondern gewähren auch Einblick in eine generelle Rechtsmentalität einer Gesellschaft, die sich von offiziellen, amtlichen Rechtskonzeptionen deutlich unterscheidet. Teils zum Klischee verdichtete Vorstellungen von typischen Tätern, Opfern und Delikten fließen in die Texte ein und offenbaren eine laienhafte Sicht auf Kriminalität und Recht. Von Tätern und Opfern erschließt dieses Rechtsverständnis für das qingzeitliche China und leistet so einen Beitrag zur Rechtsmentalität der Qing Dynastie und zur Geschichte der Kriminalliteratur (gongan xiaoshuo) in China. Der Autor untersucht zeitgenössische Kriminalerzählungen hinsichtlich der Involvierung verschiedener Bevölkerungsgruppen in Kriminalität, die von der Gentry über die Bauern, Handwerker und Kaufleute bis hin zu Mönchen und Jenseitscharakteren reichen. Die Befunde werden dabei verglichen mit offiziellen Aussagen zum Recht, wie sie in historischen Fallsammlungen seit der SongDynastie zum Tragen kommen. Daraus ergeben sich spezifische, volkstümliche Vorstellungen der zentralen Rechtsbegriffe Ermittlung, Strafe, Schuld und Gerechtigkeit. Die drei untersuchten, prägenden qingzeitlichen Kriminalerzählungen über die Richter Bao, Shi und Di verweisen so auf zeitgebundene Veränderungen der Rechtsmentalität und spiegeln zudem in Aufbau, Struktur und Form eine Entwicklung des Genres und des chinesischen Romans im Allgemeinen wider.