Wende-ZEIT-Stimmung
Gedichte im KREUZ/Reim
Ilona Neudel
»Vermutlich führte zum unabwendbaren Verderb, zum jämmerlichen Scheitern der Weltveränderungsbewegung zu meiner Zeit, daß sie jede Stunde des Wachseins der Menschen beanspruchte, sie nicht zur Ruhe kommen ließ, sie durch den Zwang zum Mitmachen peinigte. Von allem Anfang an ging ich durch die Schule dieser Verkrüppelung und konnte mich ihr nur noch durch Generalstreik aller meiner Lebenskräfte: Leib, Geist und Seele, entziehen. Wahrscheinlich hätte es kein Weiterleben gegeben, wenn mich nicht zwei meiner Lebensgeister gerettet hätten: die Liebe zu einem Kind und die Lust, schreibend mein Leid zu klagen und zu tragen«. (…)
»Einkehr bei meiner frühen Liebe, dem Gedicht. Ein Gedicht ist wunderbar. Bewährter Stillstand. Ist es vollendet, bleibt es unantastbar. Kein Eingriff, kein Sichtwechsel vermögen seinem Wesen etwas anzuhaben. Ist ein Gedicht wie das Mailied, ist es von Dauer, wird von einem Geheimnis getragen. Du hörst es, liest es, sprichst es, und es bleibt vollkommen. Wie sehr es dich auch reizt, daran zu deuteln, du kannst nichts hinzufügen oder wegnehmen, ohne einen Mißklang zu erzeugen. Alle Dichterkräfte sind im Gedicht gebündelt, verdichtet zu einem Wundergebilde aus Klingen und Singen der Gefühle und Gedanken im einmalig gewordenen Wortspiel. Unaustauschbar das einzelne, unverwechselbar das Ganze – so kann ein Gedicht über seine Zeit hinauswachsen und Jahrhunderte überdauern. Hohelied der Beständigkeit. Sich das zu erschließen ist Glück, sich selbst am Gedicht zu erproben Wonne. Wenn ich mich frage, was mich auf dieser Welt am nachhaltigsten beeindruckt, dann gebe ich die immer gleiche Antwort: Die Wandelbarkeit alles Lebendigen führt zum Wunder der Unwandelbarkeit des schöpferischen menschlichen Geistes. Ob es tönt oder strahlt, steht oder sich bewegt, es ist herrlich, wie der Mensch danach strebt, sich mit Geschaffenem Dauer zu verleihen.«
Aus dem Roman der Autorin »Selbstverständnis oder O Sorge«.