Wissenschaft und Religion in den USA
Zur Problematik von Säkularisierungsprozessen im Amerika des 18. und 19. Jahrhunderts
Helmut Fuhrmann
Religion und Religiosität haben in Politik und Gesellschaft der USA nie ihren Stellenwert verloren. Beide sind Teil einer wissenschaftsgeschichtlichen Tradition, der den von Max Weber postulierten Zusammenhang von Fortschritt und Rationalität als Indikatoren des Bedeutungsverlusts der Religion in Frage stellt. Die konstruktive Koexistenz von Religion und Wissenschaft ist das umfassende Thema dieser Studie, eine Gedankenlinie, die vom Puritanismus über Jonathan Edwards bis zur Organisation der American Association for the Advancement of Science im 19 Jahrhundert führt. Theoretisch und methodisch werden klassische Positionen der Religionssoziologie in den kulturgeschichtlichen Kontext eines spezifisch amerikanischen Diskurses über die Bedeutung von Religion und Wissenschaft für eine demokratische Gesellschaft auf dem Weg in die Moderne eingebettet. Die Tatsache, dass Peter L. Berger neben anderen das klassische Säkularisierungsparadigma als Irrtum bezeichnete und sich mit der Frage beschäftigte, wie denn eine Gesellschaft in der Moderne zu verstehen sei, die sich als religiös versteht, ist eine von mehreren Leitlinien der Überlegungen, die sowohl den Begriff der Moderne thematisieren als auch den des Fortschritts. Die kulturelle Identität der USA liegt eben nicht in der Homogenität, sondern in der Spannung zwischen Wissenschaft und Religion, die einen spezifisch amerikanischen Diskurs formalisiert hat. Ein kulturelles Deutungsmuster, das dazu zwingt, das Erbe des Puritanismus zu differenzieren. Was bislang meist als Regionalismusdebatte galt, wird hier für die amerikanische Zivilisationsgeschichte zum zentralen Erkenntnismotiv: religiöse Bewegungen haben das Demokratieverständnis der USA entscheidend geprägt. Durch den Bürgerkrieg und über ihn hinaus ist der Erfahrungshorizont des Subjekts durch ein religionsgeschichtliches Existenzbewusstsein geprägt, der sich durch den Rückgriff auf die Wissenschaftsgeschichte nachvollziehen lässt. Jonathan Edwards hat dieser Spannung von Theologie und Wissenschaft umfassend Rechnung getragen. Vom schottischen Common Sense beeinflusst, sieht er das empirische Naturverständnis als letztlich metaphysische Erkenntnis; er begründet so sein theistisches Weltverständnis und bestätigt dergestalt seine calvinistische Orthodoxie. Edward Hitchcock, Professor für natürliche Theologie und dritter Präsident von Amherst College, langjähriger Vorsitzender der AAAS, sollte als Geologe an der Bedeutungseinheit von Religion und Wissenschaft arbeiten, was nicht zuletzt den metaphorischen Sprachgebrauch der Bibel unstrittig machte. Eine Analyse der Presidential Addresses der American Association for the Advancement of Science (AAAS) belegt, dass ein Verschwinden von Religion – hier im Verhältnis zur Wissenschaft – nicht zu verzeichnen ist. Das Signifikante an der Religion wandelt sich insofern als nicht weiter versucht wird, aus der Heiligen Schrift wissenschaftliche Wahrheit zu extrahieren. Religion entfaltet sich als sinnstiftendes Korrektiv gegenüber dem umfassend greifenden Positivismus.