Zur Bedeutung mystischer Denktraditionen im Werk von Hermann Broch
Anja Grabowsky-Hotamanidis
Auf der Grundlage des von Amann und Grote (1990) rekonstruierten Bestandes von Hermann Brochs (1886-1951) Wiener Bibliothek analysiert die Arbeit Brochs Dichten und Denken erstmals systematisch im Zusammenhang unterschiedlicher mystischer Quellen, die der Autor nachweislich rezipiert hat, und kann so die in der Forschung bislang nur vage festgestellte Fundierung seines Werkes im Konzept der Mystik konkretisieren. Sie ordnet Brochs Werk in die Ergebnisse der aktuellen Mystik-Forschung und ihre Beobachtung einer zu Beginn des 20. Jahrhunderts im europäischen Geistesleben stattgehabten Wiederentdeckung mystischer Denktraditionen ein, die im Zeichen des Zerfalls verbindlicher Wertorientierungen und als Kompensation der modernen Subjektproblematik entsteht und eine Säkularisation in Richtung auf ‚leere Transzendenz‘ erfährt. Brochs Beitrag zu diesem transformierten Mystikverständnis wird als Suche nach alternativen, auf Totalität ausgerichtete Erkenntnismöglichkeiten erkennbar, zu deren Vehikel er seine Dichtung in ihrem Doppelcharakter als Diskurs und Metadiskurs bestimmt. Die Studie weist nach, daß das Konzept einer ‚Mystik ohne Gott‘ zum schlechthin zentralen Aspekt von Brochs theoretischer und dichterischer Arbeit wird, und geht dem Einfluß seiner eigenwilligen Mystikauffassung im literaturtheoretischen, ontologischen, werttheoretischen, ethischen, thanatologischen und politischen Denken des Autors detailliert nach.