Magnet Berlin: Zuwanderung europäischer Fachkräfte
Christian Pfeffer-Hoffmann
Berlin wächst. Menschen aus aller Welt fühlen sich von der Stadt angezogen, die sich wieder zu einer Metropole entwickelt hat. Unter den vielen Neuberlinerinnen und Neuberlinern sind besonders viele Menschen aus anderen EU-Ländern, die in Berlin vor allem Bildung und Arbeit, aber auch ein interessantes Lebensumfeld suchen. Auch bei deutlich gestiegenen Flüchtlingszahlen machen sie einen sehr großen Teil der Zuwandernden aus.
Der steigende Bedarf an ausgebildeten Fachkräften und an Auszubildenden der dualen Berufsbildung in der „wachsenden Stadt“ Berlin und die steigende Zuwanderung, insbesondere aus anderen EU-Staaten, stehen bisher relativ unverbunden nebeneinander. Die Zuwandernden verfügen zwar durchschnittlich über ein deutlich höheres Bildungsniveau und eine geringeren Altersdurchschnitt als die Berliner Bevölkerung, finden aber trotzdem oft keine qualifikationsentsprechenden Jobs und leben häufig in prekären Verhältnissen. Gleichzeitig bleiben zunehmend Ausbildungsplätze unbesetzt und suchen Unternehmen – nicht nur in der Pflege – nach Fachkräften. Berlin verfügt zwar über einen schwächeren Arbeitsmarkt als andere Regionen Deutschlands, besitzt aber gleichzeitig eine hohe Anziehungskraft für Neueinwandernde. Dies begründet sich vor allem mit der Bekanntheit Berlins und seines Images als attraktive Stadt mit vergleichsweise geringen Lebenshaltungskosten.
In den letzten acht Jahren ist durch die Wirtschaftskrise in den südlichen EU-Staaten und die Öffnung des EU-Arbeitsmarktes für die neuen ost- und südosteuropäischen EU-Staaten eine neue Wanderungswelle nach Deutschland entstanden. Diese Neue Arbeitsmigration ist durch deutliche andere Motivationen, Migrationsprozesse, Bedarfslagen und Integrationsverhalten gekennzeichnet als die „Gastarbeiter-Migration“ der 60er und 70er Jahre (Pfeffer-Hoffmann 2014).
Die stärkste Einwanderung ist aus Polen, Rumänien und Bulgarien nach Deutschland zu verzeichnen, deutlich vor der Immigration aus den südlichen EU-Staaten, insbesondere aus Spanien, Italien und Griechenland. Während alle diese Wanderungsprozesse durch die enormen Unterschiede der Arbeitsmärkte in der EU bei gleichzeitiger Freizügigkeit zurückzuführen sind, basiert die Einwanderung aus den ost- und südosteuropäischen EU-Staaten zudem stark auf Umlenkungseffekten: Frühere Einwanderungsländer der EU, insbesondere Großbritannien, Irland, Spanien und Italien haben durch die Wirtschaftskrise relativ zu Deutschland an Attraktivität verloren.
Berlin ist ein bevorzugtes Ziel junger Menschen aus der EU. Die Einwanderungsdaten nach Berlin weichen deutlich vom deutschen Durchschnitt ab. Die deutsche Hauptstadt wird als Migrationsziel nicht aufgrund der Lage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ausgewählt, sondern wegen des Rufes als „hippe“, lebenswerte Metropole, der vergleichsweise geringen Lebenshaltungskosten und der vorhandenen Beziehungen zur jeweiligen ethnischen Community. Binnen 7 Jahren – von 2008 bis 2014 – hat sich die Zahl einwandernder EU-Bürger/-innen nach Berlin im Saldo verfünffacht.
In Berlin – wie in ganz Deutschland – stellten 2014 die Einwandernden aus Polen die größte Gruppe. Es folgt dann schon Italien als Herkunftsland. Auch Spanien und Frankreich spielen für die Zuwanderung nach Berlin eine stärkere Rolle als im deutschen Durchschnitt. Zu den wichtigen Herkunftsländern zählen zudem Bulgarien und Rumänien, wobei in Berlin mehr Bulgar/-innen zuziehen als Rumän/-innen – im gesamtdeutschen Durchschnitt ist es andersherum. Mit der Ergänzung der jungen, gut qualifizierten Zuwanderung aus Ost- und Südosteuropa durch eine überdurchschnittliche Einwanderung aus „alten“ EU-Staaten sind eindeutig „Hauptstadteffekte“ zu beobachten, die für die zukünftige Fachkräfte- und Migrationspolitik Berlins spezifische Beachtung finden sollten.
Generell wird es in den kommenden Jahren für die Außenwirkung von Berlin wichtiger werden, sich als Stadt zu präsentieren, die neben ihrer Lebensqualität auch qualifizierte und adäquate Arbeit bietet. Im Rahmen der Gemeinsamen Innovationsstrategie der Länder Berlin und Brandenburg (Senat von Berlin, innoBB 2011) ist dabei noch wenig auf Zuwanderung eingegangen worden. Durch das Eckpunktepapier BerlinArbeit aus dem Jahr 2012, insbesondere mit dem Zielbereich 3 „Sicherung und Entwicklung des Fachkräftepotenzials für den Berliner Arbeitsmarkt“ (teilweise auch Zielbereich 2), ist das Thema inzwischen deutlich stärker in den Fokus gerückt (Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen (SenAIF) 2012). Berlin befindet sich dabei aber in einem Wettbewerb mit anderen Großstädten, sowohl auf europäischer Ebene als auch in Deutschland (Hamburg, München).
Für die kommenden Jahre ist also trotz des demografischen Wandels für Berlin ein deutlicher Bevölkerungszuwachs zu erwarten. Vom Demografiekonzept 2009 (BMI 2012) über die Fachkräftestudie (SenAIF 2010) bis hin zur aktuellen Arbeit im Rahmen der AG „Wachsende Stadt“ (Senat von Berlin 2014a) hat sich der Berliner Senat intensiv damit beschäftigt. Zuwanderung aus dem In- und Ausland ist der treibende Faktor für das Bevölkerungswachstum. Gleichzeitig steigt der Fachkräftebedarf:
„Die Gemeinsame Fachkräftestudie Berlin-Brandenburg prognostiziert für 2020 bereits einen Fachkräftemangel von 362.000 Personen, der sich bis 2030 auf 460.000 Personen erhöhen könnte. Vor allem bei Lehrkräften, bei den medizinischen und pflegerischen, mathematisch-naturwissenschaftlichen und Ingenieursberufen ist eine Mangelsituation absehbar. Dieser Fachkräftebedarf muss einerseits durch Studium, Duale Ausbildung, Qualifikation von Erwerbstätigen und Aktivierung von Erwerbslosen gesichert werden, andererseits leistet aber auch die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte einen wichtigen Beitrag. […] Eine grundsätzliche Steuerung des Zuzugs von Fachkräften nach Berlin findet bisher allerdings nicht statt. In einer Studie soll daher untersucht werden, welches Qualifikationsniveau und welche Berufsprofile die Zuwandernde aufweisen und wie diese sich zum Berliner Fachkräftebedarf verhalten, um auf dieser Grundlage eine gezielte Anwerbung betreiben zu können.“ (Senat von Berlin 2014a: 12)
Das Projekt „Fachkräftesicherung durch Integration zuwandernder Fachkräfte aus dem EU-Binnenmarkt – Entwicklung von Handlungsempfehlungen in Bezug auf die Neue Arbeitsmigration aus Polen, Rumänien, Bulgarien und Frankreich nach Berlin“ setzt genau an diesem Punkt an. Es wurde von Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e. V. auf der Grundlage einer Modellförderung durch die Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen von November 2014 bis Dezember 2015 durchgeführt.
Das Projekt gliedert sich in mehrere Arbeitspakete, die der Entwicklung von Handlungsempfehlungen, der Generierung des dafür notwendigen Wissens und dem Transfer des Wissens sowie der Handlungsempfehlungen durch Schulungen und Veranstaltungen dienen. Dazu zählen (a) eine Erfassung des Standes der Arbeitsmarkt- und Zuwanderungspolitik in Bezug auf die Integration von Fachkräften aus dem europäischen Ausland in den Berliner Ausbildungs- und Arbeitsmarkt; (b) der Aufbau von Informations- und Kooperationsstrukturen mit Communities neu zugewanderter Ausbildungs- und Arbeitsmigrant/-innen aus Polen, Rumänien, Bulgarien und Frankreich; (c) die Herausarbeitung spezifischer Fragestellungen der Arbeitsmigration in den Berliner Ausbildungs- und Arbeitsmarkt; (d) eine Expertise zur freien Zuwanderung nach Berlin aus Polen, Rumänien, Bulgarien und Frankreich; (e) die Entwicklung von Handlungsempfehlungen für den Senat und Arbeitsmarktakteure und schließlich (f) den Transfer dieser Ergebnisse. Dieses Buch bildet alle diese Handlungsfelder ab:
Im Teil I, der die Grundlagen für unsere empirischen Analysen und die entwickelten Handlungsempfehlungen beschreibt, werden zum einen der Stand der Arbeitsmarkt- und Zuwanderungspolitik sowie entsprechende Handlungsstrategien aufgearbeitet. Zum anderen wird die Sicht der vier Communities auf ihre Integration in Berlin auf der Basis von gemeinsam durchgeführten Workshops dargestellt.
Teil II des Bandes gibt dann umfassend die Ergebnisse der empirischen Analyse wieder: Wir haben in den vergangenen Monaten in einer umfangreichen Befragung diejenigen Bewohner/-innen Berlins untersucht, die seit 2008 aus Bulgarien, Frankreich, Polen und Rumänien zugewandert sind. Aus ihren Antworten konnten wir ein sehr differenziertes Profil erstellen, das fundierte Aussagen z. B. zu soziodemografischen Merkmalen, zu Migrationsmotiven, zum Spracherwerb, zur sozialen Integration, vor allem aber zur Arbeitsmarktintegration zulässt. Diese Ergebnisse werden zusätzlich mit den Profilen von Neueingewanderten aus Italien und Spanien verglichen, die aus einer weiteren Minor-Studie, der „Langzeitanalyse Neue Arbeitsmigration“, stammen (Pfeffer-Hoffmann 2015).
Schließlich werden im Teil III konkrete Handlungsempfehlungen für die Integration der Neuzuwandernden als Fachkräfte in den Berliner Arbeitsmarkt vorgestellt. Von diesen hoffen wir, dass sie geeignet sind, den Berliner Senat ebenso wie Unternehmen, Kammern, Gewerkschaften, Migrantenorganisationen, Beratungsstellen, Bildungseinrichtungen und weitere Akteure bei ihren Bemühungen um eine gelingende Integration der Neuzuwandernden aus Europa zu unterstützen.
Unsere Projektergebnisse weisen darauf hin, dass viele zwar vergleichsweise gut vorgebildete Menschen in Berlin einwandern, diese aber noch zu wenig Zugang zu Bildung und Arbeit finden. Sie kommen häufig nach Berlin, um ihre Chancen für eine Migration nach Deutschland auszuloten, also „zu erproben“. Ein wesentlicher Teil bricht diese „Erprobung“ dann mangels gut funktionierender Übergänge in Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten wieder ab. Der Zugang in den Arbeitsmarkt erfolgt teilweise über prekäre Beschäftigung. Überqualifizierung ist ein häufig zu beobachtendes Phänomen. Die Mehrzahl der Neuzugewanderten ist dabei überdurchschnittlich gut gebildet und bemüht sich, schnell Deutsch zu lernen. Institutionelle Beratungsangebote sind jedoch nur unzureichend bekannt und werden kaum genutzt. Viele der neuen Migrant/-innen setzen primär auf informelle Netzwerke, die zwar eine wichtige Rolle für die Selbsthilfe spielen, jedoch negative Auswirkungen auf die Integration in den Arbeitsmarkt haben können.
Berlin hat einen Standortvorteil gegenüber anderen Regionen Deutschlands. Es übt eine enorme Anziehungskraft aus, die gesuchte Fachkräfte von allein zuwandern lässt. Eine schnellere und bessere Integration dieser neuen, zugewanderten Berlinerinnen und Berliner in Bildung und Arbeit birgt enorme Chancen für die Weiterentwicklung von Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Gesellschaft. Wir hoffen, mit den vorliegenden Ergebnissen und Empfehlungen dazu einen Beitrag leisten zu können.