Lot auf der Terrasse des Kempinski

Lot auf der Terrasse des Kempinski von Sarin,  Bernhard
Imre Kertész (1929-2016) wurde international bekannt durch den Roman »Schicksalslosigkeit« (1975), der von seiner Deportation aus Budapest in das KZ Buchenwald im Jahr 1944 handelt. Der eigentliche Gegenstand des Romans ist jedoch nicht Kertész' Haft in dem deutschen Arbeitslager, sondern seine schriftstellerische Arbeit seit Mitte der 50er Jahre in Ungarn, bei welcher er sich der Vereinnahmung durch den nationalen Kulturbetrieb konsequent entzog. Von einer solchen geistigen Exilierung zeugen auch alle seine weiteren Schriften. In dem Tagebuchroman »Letzte Einkehr« (2014) versetzt er sich schließlich in die biblische Gestalt des Lot. So erscheinen die in dem Roman enthaltenen Tagebuchpassagen, die von 2001 bis 2009 Kertész' Leben in seiner Wahlheimat Berlin authentisch widerspiegeln, als Nacherzählung der Geschichte von Lots Flucht aus Sodom. Lots Flucht symbolisiert dabei offenbar das Schreiben, durch das Kertész sich gewissermaßen von der Zeit und vom Leben gelöst und in die Weltliteratur gerettet hat. Zugleich ist seine demonstrative Absonderung von der Gesellschaft im Sinne Rilkes ein Beispiel für einen »eigenen Tod«. Der Essay »Lot auf der Terrasse des Kempinski« ergänzt die Dissertation »Ein Leben als Artikulation. Die anthropologische Ikonographie der Schriften von Imre Kertész« (Potsdam, 2010), bei deren Fertigstellung Kertész' späte Tagebücher und der Roman »Letzte Einkehr« noch nicht vorlagen. Als neue Quelle wird nun auch eine größere Auswahl von Interviews der Jahre 1989-2015 hinzugezogen, in denen Kertész sein Werk selbst kommentiert. In einer ausführlichen Analyse seines Gesamtwerks ist zu sehen, wie er persönliche Erlebnisse mit Hilfe universeller Deutungsmuster auf die Ebene der Dichtung oder der Fiktion bringt und damit seine Erfahrungen im Medium der Literatur für spätere Generationen bewahrt. Insbesondere betrifft dies das Wissen um den Holocaust und dessen ethische Konsequenzen. Nach der Wende war es Kertész' erklärtes Anliegen, die christlich-humanistische Tradition des Abendlands durch jene »negative Offenbarung« zu bereichern, da sie ohne Bezug zum europäischen Kulturbruch nur noch ein »toter Mythos« wäre. Zuletzt relativierte er jedoch seine Hoffnung, aufgrund von Auschwitz werde eine neue Kultur entstehen, und er beschränkte sich wieder darauf, als Autor ein individuelles Zeugnis für eine geistige Lebensform zu geben. (Überarbeitete Fassung von »Eingeschlossen in Fiktionen. Der Lot-Roman von Imre Kertész«, 2018, 2. Auflage 2019)
Aktualisiert: 2020-04-17
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Der Betrachter

Der Betrachter von Flemming,  Heike, Kertész,  Imre, Kornitzer,  Lacy
Wohl bei keinem anderen Schriftsteller bilden Werk und Tagebuch ein so enges Geflecht wie bei Imre Kertész. Die von ihm veröffentlichten Extrakte aus seinen Diarien sind, im Wortsinn, existentielle Literatur. Den Anfang machte nach der Wende sein berühmtes «Galeerentagebuch», die erschütternde Dokumentation seiner 30-jährigen Isolation und geistigen Geheimexistenz im sozialistischen Ungarn zwischen 1961 und 1991. Unter dem Titel «Letzte Einkehr» folgten 2013 Aufzeichnungen aus dem Jahrzehnt 2001 bis 2009, in dem er sich von Ungarn abwandte und Berlin zu seiner Wahlheimat machte. «Der Betrachter» mit Notaten aus den Jahren 1991 bis 2001 schließt die Lücke zwischen beiden Tagebüchern. Es sind die Jahre nach der europäischen Wende, Aufbruchsjahre, in denen Kertész eine späte, unverhoffte Anerkennung seines Schaffens erfährt, zunächst in Ungarn, vor allem jedoch in Deutschland, Westeuropa und schließlich, im Nobelpreis gipfelnd, weltweit. Zugleich sind es die Jahre, da er sich mit dem in Ungarn neu aufkeimenden Nationalismus und Antisemitismus konfrontiert sieht. Reflexionen über den Epochenwechsel, das Judentum, die «Fatalität Ungarn» und die ihm mit wachsendem Ruhm zufallende, ungeliebte Rolle einer «öffentlichen Existenz» durchziehen die Aufzeichnungen wie Motivstränge. Sehr berührende Passagen sind dem Abschied von der langjährigen Lebensgefährtin Albina gewidmet, die 1995 an Krebs starb. Mit «Der Betrachter» rundet sich die Reihe von Kertész' Tagebuchveröffentlichungen zu einer fünfzig Lebensjahre umspannenden Trilogie – einer monumentalen Entwicklungsgeschichte seines Denkens und Schreibens.
Aktualisiert: 2022-10-04
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