Tiefe Krisen in Wirtschaft und Gesellschaft erweisen sich als ernsthafte Bewährungsproben für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie belegen, ob und inwieweit die in den einzelnen Disziplinen herrschenden wie konkurrierenden Forschungsprogramme realitätstauglich sind und problemadäquate Bearbeitungs- bzw. Gestaltungspotentiale aufweisen.
Im Herbst 2008 erlebte die den Kapitalismus gegenwärtig prägende Krise ihren dramatischen Höhepunkt. Seitdem sind fünf Jahre vergangen und die Wirtschaft Europas hat sich aus dem Teufelskreis von Banken-, Finanz-, Wirtschafts-, Schulden- und Währungskrise immer noch nicht vollständig befreit. Auch wenn es gelungen ist, für bestimmte Bereiche partielle Lösungsansätze zu finden, die Rezession überwunden ist und im Finanzsektor zumindest einige Reformen auf den Weg gebracht worden sind, so ist doch noch immer kein Ende der Krise als Phänomen von gesamtgesellschaftlicher Tragweite abzusehen. Ebenso wenig sind bisher die Folgen kalkulierbar – die Folgen für die künftige Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung in Europa und in der Welt wie die Folgen für die ökonomische, soziologische und politische Theorie.
Schon heute gilt als sicher, dass die gegenwärtige Krise in die Geschichte des Kapitalismus einmal als nachhaltige Zäsur, als „große Krise“, vergleichbar mit der großen Krise der 1970er Jahre und der Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1932 bzw. 1941, eingehen wird. Sie hat nicht nur den Finanzmarktkapitalismus als marktradikales Modell wirtschaftlicher Reproduktion und Dynamik diskreditiert; sie hat auch die theoretischen Grundlagen der finanzkapitalistischen Akkumulation und Regulation, der liberalen demokratischen Verfassung und der sozialstaatlichen Ordnung nachdrücklich in Frage gestellt. Im Zuge dieser Krise haben nicht nur die Banken an Ansehen verloren und die Finanzmärkte als Regulierungsinstitutionen an Überzeugungskraft eingebüßt; es hat auch die herrschende Ideologie des Neoliberalismus und die diese stützende und begründende Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie auf Dauer an Erklärungswert verloren. Demgegenüber erlebten heterodoxe Ansätze, kapitalismuskritische und alternative Konzepte einen bemerkenswerten Aufschwung. Dies betrifft neue wirtschafts- und sozialtheoretische Ideen, welche für neuartige Problemlagen mit unorthodoxen Antworten aufwarten wie zum Beispiel die der Nobelpreisträger/in Elinor Ostrom, Joseph Stiglitz und Paul Krugman, aber auch ältere Theorien wie die von Karl Marx, John M. Keynes, Gunnar Myrdal und Hyman P. Minsky, die aus der Mode gekommen zu sein schienen und die nun, angesichts der Krise und deren Folgen, neu gelesen und befragt werden.
Die Beiträge in diesem Buch widmen sich schwerpunktmäßig der Analyse neuer und bemerkenswerter Entwicklungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft, deren wissenschaftliche Bearbeitung gerade erst begonnen hat. Über eine Reihe von Einzelstudien, die sich mit der Emergenz verschiedener Konzepte sowie dem Bedeutungsgewinn einzelner Theoretiker, der wachsenden Rezeption ihrer Ideen und möglichen (wirtschafts-)politischen Konsequenzen derselben beschäftigen, wird versucht, zu tiefer gehenden Einsichten und Wertungen über das Gewicht und die Tendenzen dieser Prozesse und Phänomene zu gelangen. Wie schon in einer früheren Publikation angedacht, gehen wir dabei davon aus, dass die Zukunft der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Theorie in der Überwindung ihrer bisherigen paradigmatischen Enge liegt, im Aufbrechen derselben, in einer stärkeren Ausprägung von Variationen im Rahmen eines Paradigmas sowie möglicherweise in der Hinwendung zu einem neuen Paradigma wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung.
Die in diesem Band vertretenen elf Aufsätze sollen diesem Anliegen dienen; es handelt sich hierbei um Beiträge zur Diskussion. Sie sind Bestandteil eines Forschungsprojekts, das die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung Berlin im Jahr 2013 in Fortschreibung des 2012 erfolgreich bearbeiteten Projekts “Vor einem Paradigmenwechsel? Studien zu Entwicklung in der zeitgenössischen internationalen Economics“ realisiert hat.
Untersuchungsgegenstand des diesjährigen Projekts sind neue Ansätze, Prozesse und Resultate der Theorieentwicklung innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften im Kontext der gegenwärtigen Krise. Der Fokus ist dabei speziell auf solche Erscheinungen gerichtet, die erstmals im Kontext der Krise beobachtbar sind und dabei gerade die auftretenden Veränderungen und Brüche, Problemlagen und Fragen, Herausforderungen und Handlungsnotwendigkeiten in Wirtschaft und Gesellschaft aus der jeweils spezifischen Perspektive einzelner Wissenschaftsdisziplinen spiegeln und thematisieren. Über Studien aus den Wirtschaftswissenschaften, der Philosophie, der Soziologie sowie der Politikwissenschaften soll der Versuch unternommen werden, belastbare Erkenntnisse und Urteile über die Relevanz, Dimensionen und Tendenzen dieser Theorieentwicklung zu gewinnen bzw. zu formulieren.
Zentrale forschungsleitende Fragen des Vorhabens sind: Schlägt sich die gegenwärtige Krise generell im Theoriespektrum jener zeitgenössischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen nieder, die mit Wirtschaft und Gesellschaft befasst sind? Und wenn ja, welches sind dabei bislang erkennbare Haupttendenzen? Welche inhaltlichen Fragestellungen werden dabei in besonderer Weise aufgegriffen sowie bearbeitet und vor allem: aus welchen Gründen? Welche Sichtweisen und neuen Interpretationsmuster lassen sich ausmachen? Welche Theorieinnovationen sind erkennbar und wie verhalten sich diese zu den tradierten Ansichten und Theoriegebäuden der verschiedenen Schulen in den jeweiligen Disziplinen? Zeichnen sich möglicherweise relevante Gewichtsverlagerungen in der Beschreibung und Erklärung des Funktionierens, der politischen Gestaltung und der Perspektive moderner Wirtschaft und Gesellschaft ab? Inwieweit enthält die Theorieentwicklung Modifikationen in der Sicht auf die Rolle und Potentiale der ökonomischen, sozialen und politischen Akteure? Für die Bearbeitung dieser Fragen sollten folgende fünf Hypothesen richtungsweisend sein:
Erstens: Auf dem Hintergrund der im Zuge der großen Krise sichtbar gewordenen Risse im hegemonialen Modell des Neoliberalismus ist innerhalb der Theorien über Wirtschaft und Gesellschaft eine Reihe wissenschaftlich wie politisch bemerkenswerter Veränderungen auszumachen. Ihr Grundmoment besteht in einer facettenreichen Debatte über Ursachen und Verantwortliche für die Krise sowie über mögliche Auswege oder Alternativen. Kurz: die „Systemfrage“ wird neu zur Debatte gestellt. Sie wird nicht mehr allein „von unten“, sondern zunehmend auch „von oben“ gestellt. In diesem Spektrum gewinnen Diskurse zur Problematik von Umbruch, Transition und Transformation erheblich an Bedeutung, stellen sich nachdrücklich Fragen nach den „Großen Erzählungen“ von heute und morgen, sind aber auch Reformvorschläge und eingeleitete Reformveränderungen von nicht zu unterschätzender Relevanz.
Zweitens: Im Kontext der jüngsten Entwicklungen des Kapitalismus richtet sich der Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit verstärkt auf die Verwobenheit von ökonomischen, sozialen, institutionellen, kulturellen und historischen Einflussfaktoren des heutigen Wirtschafts- und Finanzsystems, führt dabei über die vielfach höchst unbefriedigenden Erklärungsmodelle wirtschaftswissenschaftlicher, insbesondere ökonometrischer Provenienz hinaus und rückt damit stärker die Komplexität von Vorgängen innerhalb von Wirtschaft und Gesellschaft in den Mittelpunkt von Wissenschaft und gestaltender Politik.
Drittens: Es wird in bestimmter Weise deutlicher erkennbar, dass es im Verhältnis von Markt, Staat und Demokratie/demokratischen Institutionen aus historischer Perspektive um eine grundlegende Neujustierung geht und die Krise schließlich selbst ein Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe um Interessenrealisierung ist („Marktvolk“ versus „Staatsvolk“).
Viertens: Die mit der „Großen Krise“ verbundenen ökonomischen und sozialen Verwerfungen haben nicht nur zu einer Renaissance der Kapitalismuskritik geführt, sondern auch die Frage nach Alternativen für Wirtschaft und Gesellschaft auf die Agenda gesetzt. In diesem Zusammenhang wird dem Thema „Soziale Visionen“ bzw. „Soziale Utopien“ oder vielmehr dem Defizit derselben größere Aufmerksamkeit zuteil.
Fünftens: Im unmittelbaren Kontext der „Großen Krise“ wird in zugespitzter Form die Rolle der Wissenschaften, von wissenschaftlicher Beratung, Theoriebildung und Reflexion über Wirtschaft und Gesellschaft manifest. Dabei geht es um Probleme wie Monopolbildung versus Pluralismus, Dimension und Bindung von wissenschaftlicher Politikberatung, die installierte Binnenstruktur der Wissenschaften und Wissenschaftspolitik, die Regularien von Lehre und Forschung, von Berufung und Förderung.
Nicht alle aufgeworfenen Fragen konnten mit gleicher Intensität und Ausführlichkeit behandelt werden, manches wurde nur angerissen, anderes bleibt späteren Untersuchungen, Forschungsvorhaben und Veröffentlichungen vorbehalten. Trotzdem bieten die vorliegenden Aufsätze ein breites Spektrum wissenschaftlicher Krisenanalyse; sie sind Zeugnisse für die Beschäftigung mit den theoretischen Fragen und Konsequenzen, die mit der Krise aktuell verbunden sind. Zugleich sind sie als Beitrag zu dem in jüngster Zeit verstärkt in Gang gekommenen internationalen Diskurs über the state of the art der Geistes- und Sozialwissenschaften[3] sowie als Einladung zu einer weiter führenden Debatte des topos „Theorieentwicklung und Krise“ zu verstehen.
Aktualisiert: 2019-12-14
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