Ein Mensch, besonders ein Künstler, darf nicht in den grauen Alltag hineinleben, ohne gesprochen zu haben. (Karl Amadeus Hartmann)
Im Idealfall spricht das Werk eines Künstlers für sich selbst. Allerdings fühlt der eigenwillige, innovative Kunstschaffende sich und seine Arbeit nicht selten unverstanden beziehungsweise missverstanden. Oft besteht die misstrauische Befangenheit dem Neuen und Fremden gegenüber weit über den Tod des Künstlers hinaus.
Es bedarf also offensichtlich einer Verständnisbrücke, die dem Kunst- und Kulturinteressierten den Zugang zum Werk erleichtert, wenn nicht überhaupt erst ermöglicht. So sperrig, unwegsam und unergründlich das kreative Gelände des künstlerischen Bauherrn auch auf den ersten Blick erscheinen möge, gibt es doch Wege, die hindurchführen und Eindrücke, welche die Sichtweise verändern und das Wesentliche erkennen lassen. Ab diesem Augenblick wird die Erkundung des Fremden zu einem Abenteuer, auf das man sich gern einlässt.
Die Brücke, die wir mit unserer Edition Künstler im Gespräch bauen möchten, ist der Zugang zum Menschen hinter dem Kunstwerk, im Spannungsfeld zu seinen Lebensumständen, der politischen Situation, seiner Familie, seiner körperlichen und geistig-seelischen Verfassung und der Zeit, in der er lebt bzw. lebte.
Wie viel wohler ist vielen Hörern, Sehern und Lesern von Musik, Kunst und Literatur, wenn sie erfahren, dass sich hinter einem außergewöhnlichen, vielleicht beunruhigenden Werk ein Mensch verbirgt, der greifbar, verletzbar, fühlbar ist, der einen Alltag hat, vielleicht eine Frau, manchmal Kinder, ganz sicher Eltern, und eine Kindheit; der mit Sorgen zu kämpfen hat – ebenso wie wir – der zweifelt, hofft, liebt und stirbt.
Diese gemeinsame Schnittmenge des Menschseins verbindet uns mit dem Künstler, ist eine Brücke zu seinem Werk, und kann zu dessen Verständnis wesentlich beitragen, indem es uns durch die Schleuse des Vertrauten zum Unvertrauten führt.
Jeder hört anders, erlebt das Gehörte auf seine einzigartige Weise, aber das Wesentliche ist, dass er es hört, dass er sich intensiv mit ihm beschäftigt und sich, neugierig geworden, auf Entdeckungsreise begibt, um – in unserem Falle – die neue Musik und ihre Schöpfer sehr persönlich kennen zu lernen.
Karl Amadeus Hartmann (1905-1963)
Es war mir frühzeitig klar, dass zu gegenseitiger Verständigung Bilder und Musik so notwendig sind wie Worte und Gestik. (Karl Amadeus Hartmann)
Den Auftakt unserer Edition Künstler im Gespräch bildet Karl Amadeus Hartmann, dessen Leben und Werk geprägt sind von Aufrichtigkeit, Mut, Konsequenz und Intensität. Der jugendliche Karl Amadeus, dessen Vater junge Menschen immer anfeuerte, sich umzuschauen und den künstlerischen Aufbruch der Zeit wahrzunehmen (frei nach K.A.H.), stürzte sich in den 1920er Jahren in die Abenteuer des geistigen Umbruchs, um zu Beginn des zweiten Weltkriegs schnell zu erkennen,.dass es notwendig werde, ein Bekenntnis abzulegen.als Gegenaktion, denn ich sagte mir, dass die Freiheit siegen wird, auch dann, wenn wir vernichtet würden.
Der Zerstörung dessen, was ihm von Bedeutung war, wusste er allerdings entgegenzuwirken: Seine kompositorischen Manuskripte vergrub er zu Kriegszeiten tief unter der Erde, seinen Sohn Richard brachte er bei den Großeltern unter, um ihn sicher aufgehoben zu wissen, und er selbst begab sich seit Beginn der Naziherrschaft in die innere Emigration, zog sich in sich selbst und seinen Arbeitskeller zurück, wo er in jener Zeit u.a. sein erstes Streichquartett, seine erste Sinfonie und auch die sinfonische Dichtung Miserae schrieb, die er mit folgender Widmung versah: Meinen Freunden, die hundertfach sterben mussten, die für die Ewigkeit schlafen – wir vergessen euch nicht (Dachau 1933-34).
Dies war seine Art zu sprechen in jener Zeit, in der das Andersartige mehr als in jeder anderen Zeit verfolgt und vernichtet wurde.
Hartmann war eine Ausnahmeerscheinung. Er folgte einzig seinem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, Menschlichkeit und künstlerische Wahrhaftigkeit, frei nach Oscar Wildes Devise: Wer nicht auf seine Weise denkt, denkt überhaupt nicht.
Zeitlebens ließ er sich nicht auf eine Ideologie reduzieren, nicht einordnen in ein gesellschaftliches System. Er ließ sich nie davon abhalten, ausschließlich der inneren Notwendigkeit zu folgen, die unabhängig war von der Aussicht auf Erfolg und Anerkennung. In seiner Musik wollte er ein Stück absoluten Lebens darstellen, Wahrheit, die Freude bereitet und mit Trauer verbunden ist.
Er war ein großherziger, weltgewandter und toleranter Mensch und Musiker, dem es immer um die Inhalte ging, der Künste und Künstler miteinander verbinden, dem Publikum nahe bringen wollte, was ihm u.a. mit der bis heute bestehenden Musica Viva-Konzertreihe hervorragend gelang.
Im Laufe unserer Arbeit an diesem Projekt wuchs unser Interesse am Menschen Karl Amadeus Hartmann. Wir begaben uns auf Spurensuche und entdeckten größtenteils unveröffentlichte Tondokumente, die den unbestechlichen und außergewöhnlichen Künstler Karl Amadeus Hartmann aus den verschiedensten Perspektiven beleuchten und so ein vielfarbiges, tiefendimensionales Bild des „Whitest of all German musicians“ entstehen lassen.
Auf Anregung von Otto Tomek vom SWR sprach Karl Amadeus Hartmann um 1962, kurz vor seinem Tod, in einer recht gut erhaltenen Tonaufnahme über sich selbst, über Kunst, Politik, Musik, über seine Werke und seine Kollegen. Diese Aufnahme, die aus dem Privatbesitz von Dr. Richard Hartmann/Karl-Amadeus-Hartmann-Gesellschaft e.V. stammt, veröffentlichen wir innerhalb dieser Produktion erstmalig restauriert und ungekürzt auf Tonträger.
1994 führte Ulrich Dibelius, Musikhistoriker, Schriftsteller und Freund der Familie Hartmann im Laufe von sechs Wochen ein insgesamt ca. achtstündiges Gespräch mit K. A. Hartmanns Frau, Elisabeth Hartmann (18. Februar 1913-2. August 2003), von dem er einen privaten Mitschnitt erstellte. Aus diesem Gespräch haben wir eine repräsentative Auswahl zusammengestellt.
Im Laufe unserer Recherchen lernten wir im Sommer 2009 den einzigen Sohn Karl Amadeus Hartmanns kennen: Dr. Richard P. Hartmann, geboren am 12. Juni 1935. Er erklärte sich bereit, ein persönliches Gespräch in seiner Münchner Wohnung mit uns zu führen und beschrieb das Leben an der Seite seines Vaters aus ganz persönlicher Sicht, die unsere Veröffentlichung um reichhaltige Einsichten erweitert. Auf diese Weise ist Volume I unserer Edition Künstler im Gespräch entstanden.
(Mirjam Wiesemann)