Die Neunzehn Alten Gedichte (Gushi Shijiu Shou 古詩十九首) aus der Han-Zeit
Manfred W. Frühauf
Bei dem Zyklus der Neunzehn Alten Gedichte (Gushi Shijiu Shou) aus dem China der Han-Dynastie handelt es sich um anonyme Poeme im Fünf-Wort-Versmaß (wuyanshi), die Kronprinz Zhaoming (Xiao Tong, 501‒531 u.Z.) in der Liang-Dynastie zusammentrug und in seine Anthologie (Wenxuan) aufnahm. Die gängigen Interpretationen der Gedichte verstehen die Verse als Widerspiegelung der Stimmungen, Lebensverhältnisse und Schicksale der nach einer Beschäftigung in einem öffentlichen Amt suchenden Gebildeten, auch Beamtengelehrte genannt, in den unruhigen Jahrzehnten vor dem Ende der Han-Dynastie. Aber ist das zutreffend? Wer verbirgt sich hinter dem Lyrischen Ich? Was ist die Botschaft der Gedichte? Was will der Dichter uns sagen? Will er uns überhaupt etwas sagen? Hat er auch uns heutigen westlichen Lesern etwas zu sagen?
Manfred Frühauf legt eine neue Übertragung der Gedichte ins Deutsche vor. Zudem werden die alten und neueren chinesischen Kommentarwerke (Liu Lü, Sui Shusen, Zhu Ziqing usw.) sowie die relevante westliche Fachliteratur (Diény, Hsieh, Pilscheur etc.) ausführlich diskutiert. Dazu zählen unter anderem Fragen wie Autorenschaft, Gedichtaufbau, Textvarianten, literarische Einflüsse, Datierung, Lokalisierung, Darstellung der Natur und der Menschen, Interpretationsrichtungen, mögliche politische oder auch historische Implikationen sowie Aspekte der Grammatik und Phonetik des Altchinesischen. Der sprachliche wie stilistische Vergleich mit bereits vorliegenden ‒ vor allem deutschsprachigen ‒ Übersetzungen dieses antiken Lyrikzyklus führt darüber hinaus zu einer generellen Betrachtung der spezifischen translatologischen Aspekte des Übersetzens aus dem Chinesischen in eine westliche Sprache, insbesondere der Übertragung von Lyrik.