Gesang des blauen Augenvogels
Mystische Naturlyrik
Andreas Okopenko, Manfred Stangl
Der Philosoph und Lyriker Manfred Stangl, der eine umfassende „Ästhetik der Ganzheit“ verfasst hat, in der er unserer gängigen Kunstauffassung und darüber hinaus der Lebensweise unserer modernen Zivilisation mit ihrer bis zur Vernichtungsgefahr gehenden Polarisierung und Megalisierung und ihrem Prinzip Schein statt Sein den Kampf ansagt, hat es sich zum Anliegen gemacht, in seinem Werk als Lyriker eine – wie er es nennt – mystische für alle Welt eingängige Lyriksprache zu entwickeln.
Schon sein erster Lyrikband „Ein Auge Sonne, ein Auge Mond“, der sich im Untertitel als Sammlung „Magischer Naturgedichte“ ausweist, zeigt deutlich und unter Aufbietung reiner Poesie fernab von hochakademischer Indoktrinierung diese Tendenz des Dichters.
Nun geht Stangl in seinem zweiten – an Aussagekraft gewachsenen – Lyrikwerk, den Weg weiter, der nicht die Herkunft des Poeten von der fernöstlichen Schule verleugnet, der er in all seinem Denken und Fühlen weit jenseits oberflächigen Haiku-Formalismus stark verbunden ist.
Das „magisch“ ist nicht als Hokuspokus mit dem Kaninchen aus dem Ärmel zu verkennen, vielmehr – wenn ich mich aus einem frühen Gegenbekenntnis aus Zeiten des vielstrapazierten „Magischen Realismus“ in der bildenden Kunst zitieren darf – im Sinn meines Satzes: „Magischer Realismus ist eine Tautologie; die Dinge s i n d magisch, durch ihr Sein; durch ihre unendlichfaltigen Beziehungen, Möglichkeiten; die Dinge sind von Natur aus magisch; der Mensch kann sie nur negativ verzaubern, nämlich entzaubern.“
Bei Stangl stehen die Dinge, besonders die Jahreszeiten und Landschaften, nicht allegorisch für irgendwas Anderes da, sondern als das, was sie konkret s i n d. Ein Fluss fließt, oder kühlt, oder beschmutzt… – vergleiche: „Was immer der Zen-Meister mitteilt, ist nicht Symbol, sondern die Sache selbst.“ (Alan W. Watts: Zen-Buddhismus). Und Feng-Hsüch erwiderte auf die Frage, wie zwischen Reden und Schweigen einem Irrtum auszuweichen sei: „Ich denke immer an Kiangsu im März – an den Ruf des Rebhuhns, an die Fülle der duftenden Blumen.“ Viel von solchem Geist spricht den Leser aus Stangls „Naturlyrik“ an, mag ihn die Elfen- und Nixen-Sicht in manchen Gedichten auch – heute befremdlich – an den Animismus der Urreligionen erinnern, mit der Vorstellung, alle Naturdinge seien belebt, beseelt – das „belebt“ wird schwer abzuweisen sein. Zudem wird der Leser, selbst wenn er nicht auf einer Wellenlänge mit Stangl ist, wohl in dessen Botschaft ein abweichendes aber respektables perfekt durchdachtes und durchfühltes Ganzes und im Gedichtschatz ein echtes Lyricum sehen.
Andreas Okopenko