Ist die Psychoanalyse eine geistige Übung?

Ist die Psychoanalyse eine geistige Übung? von Allouch,  Jean, Schwaiger,  Bernhard
Lässt Lacan mit der Ablehnung, sie sei eine Psychologie (mit oder ohne Tiefe), eine Kunst, eine Religion, eine Magie oder gar eine Wissenschaft, die Psychoanalyse zu etwas »Frei-Schwebendem« werden, das selbst nicht mehr weiß, was und wo es ist? Jacques Derrida hielt sie für einen unbeständigen und nicht zu verortenden Diskurs, aber »Diskurs« passt auch nicht. Michel Foucault unterbreitete den Psychoanalytikern in seinen Vorlesungen zur »Hermeneutik des Subjekts« (1982) einen überzeugenden Vorschlag. Er bemerkt, dass es der Psychoanalyse nicht gelungen sei, sich als dezidierter Bestandteil einer Geschichte der Geistigkeit zu denken. So übersah und vergaß sie, was sie ist: eine geistige Erfahrung, mittels der das Subjekt durch einen anderen notwendige Veränderungen an sich vollzieht, um so zu seiner eigenen Wahrheit gelangen zu können. Nur Lacan, fügt Foucault hinzu, hat an diesem Vergessen nicht mitgewirkt. So stellen sich drei Fragen: Ist es angebracht, dieser von Foucault ausgearbeiteten Genealogie der Psychoanalyse zuzustimmen? Was hat es mit der Geistigkeit bei Lacan auf sich? Und bei Freud?
Aktualisiert: 2022-05-21
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RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse

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»Wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen, eben das Leben selbst, nicht gewagt werden darf«, so schreibt Sigmund Freud in Zeitgemäßes über Krieg und Tod unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, »verarmt« das Leben. Es wird »schal« und »gehaltlos« – und zwar, so heißt es in einem verblüffenden Vergleich weiter, »wie ein amerikanischer Flirt, bei dem es von vorneherein feststeht, daß nichts vorfallen darf, im Gegensatz zu einer kontinentalen Liebesbeziehung, bei welcher beide Partner stets ernsten Konsequenzen eingedenk bleiben müssen«. Die »ernsten Konsequenzen«, von denen Freud an dieser Stelle bezüglich der europäischen Liebes- und »Lebensspiele« spricht, sind nicht nur der sexuelle Akt, nicht nur die etwaige Schwangerschaft in dessen Folge, nicht nur das eheliche, das heißt damals sittengemäß ewige Versprechen. Für Freud bedeuten die »Konsequenzen« auch, dass selbst noch die Ewigkeit und damit auch jeder Flirt, der mit der künftigen Möglichkeit gleich welcher anderen Verbindung kokettiert, stets vom vermeintlich, so keineswegs Letzten durchkreuzt wird: von der Gewalt des Vergehens, vom Schmerz der Trennung, von der Erfahrung des Todes und der Trauer. Ausgehend von dieser Passage Freuds möchten wir unter dem Titel »Zeitgemäßes über Leben und Tod« den »Flirt« als eine Ökonomie von Leben und Tod, von Lebens- und Todestrieb befragen. Was heißt es, wenn in jeder spielerischen Tändelei, in jedem eifrigen Geplänkel und in jedem verlegenen Annäherungsversuch nicht nur das Interesse an einer Begegnung in der Schwebe gehalten wird, sondern auch das Unbehagen an einer wesentlichen Gewalt? Wie wäre die Grammatik der Blicke und Gesten zu beschreiben, wenn sich in ihr nicht nur das Begehren, sondern auch die Gewalt der Trennung findet? Wie müsste man das Theater der wechselnden Plätze und wie die Choreografie der Haltungen und Gebärden deuten, wenn in ihnen nicht nur die Möglichkeiten der Annäherung, sondern auch die Erfahrung einer unvermeidlichen Entfernung aufgeführt wird? Und welche Funktion kommt bei all dem jenen zu, die diese Szene bezeugen sollen, deren Ahnungslosigkeit im Spiel unbedingt gewahrt bleiben muss oder denen die Geschichte nachträglich stolz, niedergeschlagen oder gar wie im Scherz erzählt wird, als sei es bei dem Flirt um nichts, nur um ein harmloses Spiel ohne Einsatz und Wagnis gegangen?
Aktualisiert: 2020-01-22
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RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse

RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse von Allouch,  Jean, Coelen,  Marcus, Faccincani,  Cristina, Goetzmann,  Lutz, Heinrich,  Klaus, Kasper,  Judith, Kleinbeck,  Johannes, Lahl,  Aaron, Pazzini,  Karl-Josef, Wegener,  Mai, Zenoni,  Alfredo
Diese Nummer begibt sich nun in dies »Innerste« der Psychoanalyse, und das zum Titel gewählte Zitat Freuds zeigt an, wie sehr es an die Infragestellung der Wissenschaftlichkeit überhaupt, nicht nur der Psychoanalyse, anknüpft, die uns im Heft zuvor beschäftigte. Freud hat die Korrektur durch die Übertragung als beschämend bezeichnet: In ihr legt sich etwas bloß, etwas von der Scham selbst sowie weiteren erogenen Zonen, etwas von den nur unterstellten Trägern und nicht greifbaren Objekten,an denen und mittels derer sich das Sprechen und Schweigen der Praxis sowie die Rede der Theorie entzünden, wiederholen und aufs Neue ereignen können. Übertragung ist somit auch das »Äußerste« der Psychoanalyse: Als solche allererst in der Analyse hervortretend auf einem »Weg […], für den das reale Leben kein Vorbild liefert«, wie Freud in den Bemerkungen über die Übertragungsliebe schreibt, trägt die Übertragung die Logik des Unbewussten aus der analytischen Kur auch wieder heraus. Wenn Freud im selben Text mahnt, dass man »kein Anrecht« habe, »der in der analytischen Behandlung zutage tretenden Verliebtheit den Charakter einer ›echten‹ Liebe abzustreiten«, dann steht darin auch die »Echtheit« jeder Liebe, auch unsere Liebe zum »Echten« überhaupt auf dem Spiel. Übertragung gibt Liebe – aber sie gibt vor allem auch die Liebe zu denken. Dass Übertragung als »durch die analytische Situation erzwungen« an und zugleich als vorbildlose Echtheit hinzunehmen ist, setzt damit das Programmierte – Schicksal und Notwendigkeit – als Ereignis Spontaneität und Kontingenz – und gibt dem Denken eine aporetische Logik vor, die zu Bildungen (an) ihrer Unmöglichkeit herausfordert. Spuren dieser eigentümlichen Übertragungslogik lassen sich weit gestreut in der Geschichte des Denkens – sowie Schreibens und Imaginierens – auffinden, und der Beitrag von Karl-Josef Pazzini geht einigen davon am Leib-Seele- Topos bei Freud selbst und sodann bei Marx nach; Johannes Kleinbeck entfaltet ihn an der »Aporie der Liebe« von Platon bis Freud; Mai Wegener untersucht genauer, wie in psychoanalytischer Übertragung Liebe eine »völlig neue Wendung des immer schon Dagewesenen« vollzieht und jede Form von Wissenschaft wie Denken mit dieser Logik herausfordert. Übertragung verstärkt und zersprengt zugleich von innen heraus die bildgläubigen Ähnlichkeiten und Spiegelungen, macht im Feld des Visuellen überhaupt die fremdartige Dynamik der Projektion spürbar; sie konzentriert und deplatziert (manchmal bis zum deplatzierten Witz, manchmal bis in ortlose Absurditäten) die sprachgebundenen Identifizierungen, zersetzt die Einheiten von Wort und 12 13 Sinn, öffnet das Sprechen auf Einverleibungen; sie verschärft den Zusammenprall mit der Abwesenheit in Hilflosigkeit und umrandet dies als Tod, Sexualität, Wahnsinn. Auch an sich selbst, am Konzept »Übertragung« erfährt sie, neben ihrer Eigenlogik, Mannigfaltigkeit. Cristina Faccincani zeigt in ihrem Beitrag diese Multidimensionalität in Theorie und klinischer Praxis auf. Dass sie dabei auch auf die »psychotischen Dimensionen in der Beziehung des analytischen Paars« zu sprechen kommt, markiert einen Zug der Übertragung, den unser Heft aufnimmt. Die Frage nach Übertragung (in) der Psychose ist eine alte und kontroverse, und zwei Beiträge beantworten sie hier betont affirmativ: Alfredo Zenoni, indem er die »strukturell andere Übertragung« in der Arbeit mit Psychose herausarbeitet und sie nicht als Wiederholung einer Liebe, sondern als »Antwort auf Liebe« denkt; Jean Allouch, indem er von Lacans Relation zu »Aimée« ausgehend (eine Benennung, die von Liebe zeugt) das Lacan’sche »Mathem der Übertragung« neu auslegt. Jenseits des Heftthemas befasst sich Lutz Goetzmann mit einem anderen schwer Formulierbaren: Ist ein Denken über das Jenseits, was hinter der Linie des zweiten Todes liegt, überhaupt möglich? – Volkmar Billig und Wolfram Ette sprechen mit dem Berliner Religionsphilosophen Klaus Heinrich darüber, was in unserer Wahrnehmung der Städte, in denen wir leben, oftmals übersehen und verdrängt wird und worin er ein utopisches Potenzial erkennt. – Zudem bildet Thomas Schestags Fortsetzung seines »–schneider–« eine weitere Naht zum Vorheft.
Aktualisiert: 2023-03-15
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