Abkommensmissbrauch im internationalen Steuerrecht der Schweiz
Missbrauchsbestimmungen - Rechtsprechung - Verwaltungspraxis
Marcel R. Jung
Marcel R. Jung war Landesberichterstatter der Schweiz am Kongress 2010 der International Fiscal Association in Rom zum Thema ‚Tax Treaties and Tax Avoidance: Applikation of Anti-Avoidance Provision‘. Diese übersetzte, aktualisierte und erweiterte Fassung des Landesberichts soll als theoretisch fundiertes und zugleich praxisbezogenes Hilfsmittel sowohl dem Praktiker als auch dem Selbststudium dienen.
Bei der Bekämpfung des Missbrauchs von Schweizer Doppelbesteuerungsabkommen sind zwei Trends zu erkennen. Ein von innen ausgelöster Trend besteht in einer Rechtsfortentwicklung durch das Bundesgericht, wonach für die Auslegung einer Abkommensbestimmung neben dem Wortlaut auch darauf abzustellen ist, wie die Parteien das Doppelbesteuerungsabkommen nach dem Vertrauensprinzip im Hinblick auf den Vertragszweck verstehen durften.
Gleichzeitig ist im Schweizer Abkommensrecht ein gegenläufiger von aussen ausgelöster Trend zu erkennen. Seit dem Abschluss des Zinsbesteuerungsabkommens zwischen der Schweiz und der EU und ihren Mitgliedstaaten am 26. Oktober 2004 und dem Rückzug ihres Vorbehalts gegenüber Art. 26 des OECD-MA am 13. März 2009 hat die Schweiz eine grosse Anzahl Doppelbesteuerungsabkommen mit wichtigen Vertragsstaaten revidiert oder abgeschlossen und dabei zahlreiche Missbrauchsbestimmungen revidiert oder neu in das Schweizer Abkommensrecht eingeführt. Auf Wunsch ausländischer Vertragsstaaten wurden in den letzten Jahren immer häufiger bilaterale Missbrauchsbestimmungen in Schweizer Doppelbesteuerungsabkommen vereinbart.
Innert weniger Jahre hat sich eine neue Schweizer Rechtsprechungs- und Verwaltungspraxis und ein neues Schweizer Abkommensrecht bei der Bekämpfung des Abkommensmissbrauchs entwickelt.