Der Mensch und sein Tempel / Chartres
Schule und Kathedrale
Frank Teichmann
Frank Teichmann setzt mit dem schon lange erwarteten vierten Band die Reihe ‚Der Mensch und sein Tempel‘ fort, in der es vor allem um das Verständnis des Menschen geht, der Tempel und Kirchen baute, sowie um die Geschichte seines Bewusstseins, wofür die Bauten seiner Gottesverehrung die herausragenden Zeugnisse sind.
Es sind unterschiedliche Schichten des Menschen, die in den Tempelbauten dominierenden Ausdruck finden. Der gotische Dom ist ein Bild der Seele und ihrer Sehnsucht nach dem Göttlichen. Er ist der erste Bau, der ausschließlich christlichen Gedanken entsprang und eine metaphysische Wahrheit transparent werden läßt. Was als ein urplötzlicher Impuls in der Gestaltung des Innenraums aus durchlichteten Wänden auftritt, entspringt einer Verbindung zur unkörperlichen Welt farbigen Leuchtens, dessen Lichtquelle dem Menschen unzugänglich ist. Der gotische Dom ist die Hülle für das am Altar vollzogenen Mysterium.
Die Kathedrale von Chartres ist Ausgangspunkt, Urbild und Vollendung zugleich für diese neue Stufe des Sakralbaus. Von der initiativen Idee bis zu den Gesetzen der Ausführung geht sie auf das an diesem Ort schon lange gepflegte geistige Leben der Schule von Chartres zurück, die im 12. Jahrhundert führend war. Ihre Lehren prägten die Bauformen wie die Proportionen, die sich auf die hier gelehrten Zahlengeheimnisse auf der Grundlage einer einheitlichen Weltschau zurückführen lassen. Was sich in dieser Kathedrale an metaphysischer Wahrheit Ausdruck verschaffte, ist jedoch von unseren heutigen Vorstellungen davon sehr verschieden und läßt sich auch den schriftlichen Quellen nicht entnehmen. Eine ungeheure Wirkung ging von dieser Katherdrale aus, eine Fülle großer und bedeutender Bauten, die einander in kurzer Zeit folgten. Das Ende der scholastischen Erforschung der spirituellen Welten war auch das Ende dieser Bau- und Kunstepoche.