Der Riesencodex der Hildegard von Bingen
Verschollen - Gefunden - Gerettet. Schicksalsjahre 1942 bis 1950. Mit einem Anhang: Margarete Kühn und ihre Briefe
Christiane Heinemann
Der berühmte Riesencodex der Hildegard von Bingen (1098–1179), eine mittelalterliche Handschrift von gewaltiger Größe, enthält das visionäre Werk der Heiligen, dazu ihre Briefe und Kompositionen. Die Textsammlung gilt als das geistige Vermächtnis der Seherin und Universalgelehrten, deren Strahlkraft bis heute unvermindert wirkt.
Der Codex, im Zweiten Weltkrieg aus der Landesbibliothek Wiesbaden nach Dresden evakuiert, überstand das Bombeninferno wunderbarerweise unversehrt, wurde aber nach dem Krieg auf dem Boden der Sowjetischen Besatzungszone festgehalten. In einer tollkühnen Aktion gelang es einer hochmotivierten Frau, den Codex zurück in den Westen zu schmuggeln. Um die „Entführung“ zu vertuschen, wurde ein Double präpariert und in die DDR zurückgeschickt – in Zeiten des Kalten Krieges ein unerhörter Vorfall, der eine Staatskrise hätte heraufbeschwören können. Dass es so weit nicht kam, ist ein weiteres Wunder dieser an Merkwürdigkeiten reichen Geschichte – tat-sächlich so geschehen in den Jahren 1942 bis 1950, mit Hilfe bislang unbekannter Quellen ans Licht gebracht und in diesem Buch nachzulesen.
Tragische Heldin des Geschehens ist Margarete Kühn (1894-1986), Mitarbeiterin des ehrwürdigen Instituts „Monumenta Germaniae Historica“ in Berlin, die den Riesencodex – die unersetzliche Hauptquelle für Hildegards Visionswerk – vor dem drohenden Verlust bewahrt hat. Beseelt vom benediktinischen Geist, vollbringt sie die gefährliche Operation. Nur knapp entrinnt sie der DDR-Justiz und der Stasi. Großen Anteil am glimpflichen Ausgang haben die Nonnen der Benediktinerinnenabtei St. Hildegard im Rheingau, der Leiter der damaligen Nassauischen Landesbibliothek Franz Götting und weitere Akteure in Wiesbaden, Dresden und Berlin. Bis heute wird die prominente Handschrift in der Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain in Wiesbaden aufbewahrt.
Großformatige Fotografien zeigen den Riesencodex erstmals überhaupt im Bild. Das Buch bietet spannenden Lesestoff, es bereichert die Hildegard-Forschung um eine zeithistorische Perspektive, gibt Zeugnis vom Alltag im geteilten Nachkriegsdeutschland und ist nicht zuletzt ein faszinierender Bildband zur mittelalterlichen Buchkunst.