Deviante Jugendliche
Individualisierung, Geschlecht und soziale Kontrolle
Brigitte Ziehlke
Ausreißen ist zunächst ein „normales“ Problemlösungsverhalten und keine „deviante“ Form der Lebensbewältigung von Jungen und Mädchen. Die Ablösung von kindlichen Bindungen und die Dynamik der Verselbständi gung im Jugendalter verlaufen nur selten reibungslos; sie eskalieren zeit weise in krisenhaften Auseinandersetzungen mit den direkten Bezugs personen. Das Weglaufen von Jungen erscheint dabei weniger mit Devi anzdefinitionen verbunden zu sein als das Ausreißen der Mädchen. Laufen Jungen aus dem Elternhaus fort, wird ihnen dieses Verhalten im Rahmen ihrer Geschlechtsrolle noch zugebilligt. Die Suche nach Unbekanntem und die Auseinandersetzung mit Neuem verspricht der männlichen Existenz Freiheit und Unabhängkeit. Das Ausbrechen, das Hinausgehen „ins feind liche Leben“, gehört zum männlichen Prinzip. So läßt sich „Weglaufen“ von Jungen mit den Forderungen an das soziale Geschlecht des Mannes durchaus in Einklang bringen. Laufen Mädchen von ihrem Zuhause fort, so erfolgt oft sehr schnell auch eine Devianzdefinition. Das Ausbrechen aus dem „behüteten“ sozialen Nahraum der Familie heißt für Mädchen immer auch „Abweichung“ vom weiblichen Prinzip. Die dem sozialen Geschlecht der Frau idealtypisch zugeordneten Eigenschaften wie z. B. Passivität, Zerbrechlichkeit, Emotionalität und die „Verletzbarkeit“ weiblicher Sexualität definieren das „draußen“ als männlichen, für Frauen äußerst bedrohlichen Ort. Diese archetypischen Strukturen des sozialen Geschlechts sind auch in den individualisierten Lebenswelten heutiger Jugendgenerationen noch enthalten. Auch hier gilt der Grundsatz, daß sich Altes nicht nur verwandelt, sondern auch in Neuem fortbesteht.