Die Inkorporation als Tatbestand der Staatensukzession.
Oliver Dörr
Die politischen Umwälzungen der Jahre 1989-1992 haben die praktische Bedeutung der völkerrechtlichen Staatensukzession vor Augen geführt und zugleich verdeutlicht, wie viele Fragen in diesem umstrittenen Bereich des Völkerrechts noch immer ungeklärt sind. Dies gilt nicht nur für die Frage nach den rechtlichen Konsequenzen territorialer Veränderungen; auch in Bezug auf Einordnung und Abgrenzung der Sukzessionstatbestände, also der historischen Sachverhalte, hat die Völkerrechtslehre bislang schlüssige Konzepte nicht hervorgebracht. Aber nur, wenn über die dogmatischen Trennlinien zwischen den relevanten Tatbeständen Klarheit besteht, kann die internationale Staatenpraxis sinnvoll im Hinblick auf die Rechtsfolgen der Staatensukzession untersucht werden. Die Arbeit zeigt Wege zur Abgrenzung der verschiedenen Konstellationen einer Vereinigung von Staaten auf, indem die in der deutschen Vereinigung 1990 praktisch gewordene Inkorporation von der Annexion sowie von der Fusion unterschieden wird. Während erstere Differenzierung vor allem durch die Entwicklung des völkerrechtlichen Gewaltverbots bestimmt wird, entwickelt die Untersuchung für die Abgrenzung von Inkorporation und Fusion das Merkmal der Staatsidentität als entscheidendes Kriterium. Die Ausführungen zur völkerrechtlichen Identität von Staaten beziehen insbesondere die Praxis des Zerfalls der Sowjetunion und Jugoslawiens mit ein, da sich auch die völkerrechtliche Einordnung dieser Vorgänge zwischen Dismembration und Abspaltung nach dem Identitätskriterium richtet. Der zweite Teil der Arbeit untersucht die Staatenpraxis der letzten dreihundert Jahre und zeigt, daß der Tatbestand der Inkorporation in dieser Zeitspanne sehr viel häufiger praktisch geworden ist, als dies seine weitgehende Vernachlässigung in der Völkerrechtslehre nahegelegt hätte.