Die Strafverfolgung der NS-Kriminalität am Landgericht Darmstadt
Volker Hoffmann
Die Bewertung der Verfolgung von NS-Kriminalität im Nachkriegsdeutschland ist umstritten. Es lassen sich für eine energische Verfolgung gleichermaßen zahlreiche Beispiele finden wie für nachlässige oder unterlassene Ermittlungen. In Hessen wurden alle NS-Prozesse als historisch wertvoll eingestuft und die Akten den Staatsarchiven übertragen. Die Bestände im Staatsarchiv Darmstadt umfassen alle Arten von NS-Kriminalität, beginnend mit den Verbrechen während der Machtergreifung über die Verfolgung der Juden – mit dem Schwerpunkt der Reichspogromnacht – bis hin zu Deportation und Euthanasie und Verbrechen während der Endphase des NS-Regimes. Ziel der vorliegenden Studie war, alle Verfahren für einen geschlossenen geographischen Raum, nämlich den Landgerichtsbezirk Darmstadt, vollständig zu dokumentieren und einer Analyse zu unterziehen.
Es ging dabei zunächst um lokale Straftaten aus der Vorkriegszeit, die zeitnah nach dem Krieg verfolgt wurden, insbesondere wegen der Präsenz der Täter, der Opfer und der Zeugen. Da vielfach NS-Funktionsträger wie z.B. Ortsgruppenleiter der Partei beteiligt waren, wurde auch das Zusammenwirken mit dem Spruchkammerverfahren („Entnazifizierung“) analysiert, weil die Spruchkammern ebenfalls Sanktionen verhängen konnten. Bei den lokalen Straftaten handelte es sich meist um Landfriedensbruch, Körperverletzung und Freiheitsberaubung.
Für Verbrechen, fast ausschließlich Tötungsdelikte, die während des Kriegs in Polen und Russland begangen wurden, waren deutsche Stellen erst ab 1949 zuständig. Mangels systematischer Verfolgung war die Eröffnung der Verfahren bis zur Gründung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg 1958 dem Zufall überlassen. Täter, Opfer und Zeugen, soweit sie überlebten, kannten einander kaum; auch die Erinnerung an die Vorgänge war oft verblasst, so dass sich schwierige Beweisfragen ergaben. Hinzu kam eine Fehlleistung des Gesetzgebers (§ 50 Abs. StGB), die in Verbindung mit der Rechtsprechung zur Beihilfe bei der Vernichtung von Juden oder politischen Gegnern zur Verjährung zahlreicher Tötungsdelikte führte, bei denen der „Gehilfe“ die subjektiven Mordmerkmale nicht erfüllte.
Anhand des vorliegenden Materials konnte auch detailliert geschildert werden, wie durch Zerstörung des Rechtsstaats zu Beginn der NS-Zeit die Voraussetzungen für die Verbrechen geschaffen wurden. Andererseits arbeiteten trotz der Nachkriegswirren bereits ab Sommer 1945 Polizei und Justiz, die mit unbelasteten Mitarbeitern startete, energisch und effektiv zusammen, so dass sich insbesondere hinsichtlich der Reichspogromnacht eine hohe Verurteilungsquote ergab. Ebenfalls musste festgestellt werden, dass sich etwa ab 1948 im Rahmen der geänderten politischen Großwetterlage ein Mentalitätswechsel in der Beurteilung und Verfolgung von NS-Verbrechen gezeigt hat. Das Amnestiegesetz von 1949, eines der ersten Gesetze der Bundesrepublik, hat ebenfalls zu Milderungen in der Verhängung und im Vollzug von Strafen vor allem bei lokalen Delikten beigetragen.
Trotz der beschriebenen Unzulänglichkeiten kann insgesamt festgehalten werden:
Polizei und Staatsanwaltschaft sind nahezu jedem strafrechtlich relevanten Vorgang energisch nachgegangen und haben alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft. In einigen Fällen wurde allerdings zu viel und zu lange ermittelt, statt die Bemühungen auf die Vorgänge zu konzentrieren, die wahrscheinlich zu einer Anklage hätten führen können. Die Justiz in Darmstadt hat in der Verfolgung der NS-Verbrechen mehr geleistet, als man von ihr erwarten konnte.