Ein alter Mann wird älter
Ein merkwürdiges Tagebuch
Gerhard Ahrens, Jakob Mattner, Günther Rühle
Der andere Günther Rühle: „Ich suche mich, indem ich’s hinschreibe.“
Vom fortschreitenden Verlust des Augenlichts gezeichnet und nachdem er die Vollendung des dritten Bandes seiner Geschichte des „Theaters in Deutschland“ hat aufgeben müssen, beginnt Günther Rühle im Alter von 96 Tagebuch zu führen. Die Eintragungen, ein halbes Jahr umfassend, fangen im September 2020 an und enden im April 2021.
Rühle bekennt in seinen Tagebüchern, dass er in gut siebzig Jahren publizistischer Arbeit und nach „zigtausenden hingetippten Sätzen von mindestens 900 Kilometern Länge“ versäumt habe, über sich selbst nachzudenken. „Am Rand des Lebens“ angekommen, horcht er nun in sich hinein: Im Selbstgespräch ist er sich selbst der Stoff und beginnt, ins „Blinde“ zu schreiben, denn lesen kann er die Zeilen nicht mehr.
Die Fragmente langer Tage und unruhiger Nächte schreiben sich in sein Tagebuch ein; verdrängte Gedanken und Gefühle, Eingebungen und Träume – „Bilder aus dem Dunkeln des Vergessens“, in denen die Erinnerungen an die Kindheit, den Krieg, den Nationalsozialismus ebenso eine Rolle spielen wie die Rückblicke auf seine journalistische Arbeit (FAZ, Tagesspiegel), die Arbeit als Theaterintendant und prägende Lebensbegegnungen (u.a. Bernhard Minetti, Martin Wuttke, Einar Schleef).
Und natürlich immer gegenwärtig: das Nachdenken über das „Altern im Alter“. Darf man noch gespannt sein auf die Zukunft, wenn man bei wachem Geist der „körperlichen Abrüstung“ zuschauen muss? Eine endgültige Antwort gibt es nicht: „Die Gefühle lösen einander ab. Morgens in sich gespalten, wünscht man sich das Ende und greift noch nach dem Leben. Zweimal und oft am selben Tag.“
Der forschend aufspürende Theaterhistoriker ist diesmal sich selbst auf der Spur und muss in seinen Aufzeichnungen festhalten: „Ich treffe immer öfter auf einen Unbekannten, der doch Ich war.“